
Offenbar mit einem einzigen Posting gerät M. ins Visier der Behörden – frühmorgens habe der Staatsschutz geklingelt. Der Vorwurf: Volksverhetzung. Dann nehmen die Beamten den Mann mit auf die Wache. Was sich dort abspielt, hat für M.s Anwalt eine neue Qualität.
Jemand musste M. verleumdet haben. Am 13. November 2025 gegen sechs Uhr morgens klingelte der Staatsschutz bei ihm und präsentierte ihm einen Durchsuchungsbefehl vom 11. November 2025. So erzählt M. es WELT. Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung habe auf dem Durchsuchungsbeschluss gestanden. Durchsucht werden sollte die Wohnung, um Beweismittel wie Handy oder Computer zu finden. Gezeichnet wurde das Ganze demnach von einer Richterin am Amtsgericht Ulm.
Der vollständige Name von M. ist WELT bekannt. Er möchte anonym bleiben, aus Angst vor gesellschaftlichen Nachteilen. So viel sei verraten: M. ist 45 Jahre alt, ein eher schüchterner Typ, er bezeichnet sich politisch als „libertär“. M. arbeitet im Gesundheitswesen. Nach eigenen Angaben ist er noch nie mit Strafverfolgung konfrontiert worden. WELT führte mit ihm mehrere Gespräche per Telefon.
Der Grund für die Hausdurchsuchung, so schildert es M., soll dieser Beitrag auf der Plattform X vom 29. September 2025 gewesen sein: „Nein, jeder Mensch der vom Staat finanziert wird zahlt Netto keine Steuern, er lebt von Steuern. Jeder Beamte, jeder Politiker, jeder Angestellte in einem Staatsunternehmen, jeder der vom Staat subventioniert und finanziert wird. Kein einziger Parasit zahlt Netto irgendwelche Steuern.“
Auf Anfrage bestätigt das Polizeipräsidium Ulm den Einsatz „im Raum Göppingen wegen Verdacht der Volksverhetzung“. Den genauen Wortlaut der angeblich volksverhetzenden Aussagen von M. will die Polizei aber nicht bestätigen. „Weitere Details können wir Ihnen aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht nennen.“
Auch die Staatsanwaltschaft Ulm äußert sich nicht zu dem Vorgang. „Angaben zum Inhalt oder gar der Wortlaut der Äußerung werden in einem laufenden Ermittlungsverfahren jedoch nicht mitgeteilt“, schreibt Pressesprecher Staatsanwalt Philip Haslach auf WELT-Anfrage. Die Frage, ob eine staatliche Meldestelle wie „Hessen gegen Hetze“ oder die früher vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und von NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) beworbene Plattform „So Done“ daran beteiligt gewesen sei, wird auch nicht beantwortet.
Dazu gibt es noch eine Ungereimtheit. Der Beschuldigte gibt an, dass ihm nur ein einseitiger Durchsuchungsbeschluss vorgelegt wurde. Aus Kreisen der Staatsanwaltschaft heißt es aber, dass der Beschluss zwei Seiten umfasse. Ungewöhnlich daran ist, dass das dem Beschuldigten mutmaßlich ausgehändigte Papier auf Seite 1 unterschrieben und mit einem Stempel beglaubigt wurde. Das macht man immer auf der letzten Seite. So liegt die Vermutung nahe, dass bei der Ausstellung des Durchsuchungsbeschlusses den Ermittlungsbehörden ein Fehler passiert sein könnte.
M. jedenfalls sagt, dass er seit dem 13. November Angstzustände habe. Morgens wache er jetzt immer wieder mit der Panik auf, es komme erneut zu einem Polizeieinsatz. WELT gegenüber schildert er das Erlebte so: Um sechs Uhr morgens habe es geklingelt, als er im Bett gelegen habe. Zwei Männer, die in einem Zivilfahrzeug angekommen seien – er erinnert sich an einen größeren, hellgrauen Kombi –, hätten einen Durchsuchungsbefehl präsentiert. Die beiden hätten gesagt, sie seien vom Staatsschutz. Die Polizisten hätten ihn vor die Wahl gestellt: Handy-PIN und Handy herausgeben – oder sie würden die Wohnung auf den Kopf stellen.
M. sagt: „Ich sah keine andere Möglichkeit, als den Polizisten die PIN zu geben. Sie hätten sonst alles mitgenommen, Computer, Tablet, auch ein altes Handy. Dann hätte ich gar nicht mehr kommunizieren können.“ Das Handy habe einer der Polizisten sofort in den Flugmodus versetzt, damit M. auch nicht mehr per Remote-Funktion darauf zugreifen könnte.
Dann habe einer der Polizisten gesagt, M. müsse mitkommen. Das Polizeipräsidium Ulm teilt auf Anfrage mit, dass sich M. „freiwillig mit auf eine Polizeidienststelle in Göppingen, die er nach Abschluss der polizeilichen Maßnahmen wieder verlassen konnte“, begeben habe. M. widerspricht: „Ich bin nicht freiwillig mitgegangen. Es war eine klare Aussage. ,Sie kommen jetzt mit aufs Revier‘, haben die zu mir gesagt.“
Er habe sich noch angezogen. Dabei habe ihn einer der beiden Polizisten permanent überwacht. Er könne ja auch ein Messer ziehen, habe einer von ihnen gesagt. M. habe aufs Klo gemusst. „Ein Polizist stand neben mir, als ich zu Hause noch gepinkelt habe“, erzählt er. M. wurde offenbar penibler überwacht als die mutmaßliche RAF-Terroristin Daniela Klette: Die konnte bei ihrer Verhaftung noch allein zur Toilette gehen und von dort aus offenbar ihren mutmaßlichen Komplizen per Handy warnen.
Während der Fahrt habe einer der Polizisten gesagt, M. müsse bewusst sein, dass er „jetzt unter Überwachung“ stehe. Weiter habe der Polizist gesagt, dass das Problem der Aussagen von M. das Wort „Parasit“ gewesen sei. „Damit greifen Sie Menschen höchstpersönlich an“, habe der Polizist gesagt und sich auch dafür ausgesprochen, dass Parolen wie „Fuck the Police“ verboten würden.
Auf dem Revier in Göppingen sei M. erkennungsdienstlich behandelt worden. M. sagt: „Fingerabdrücke und Verbrecherfotos. Dazu musste ich meinen Oberkörper entblößen, damit auch eine Narbe von einer Blinddarmoperation fotografiert wurde.“ M. erinnert sich: „Ich wurde auch nach einer Blutprobe zur DNA-Sicherung gefragt. Dem habe ich auch widersprochen.“ Die Blutprobe wurde laut M. nicht entnommen.
Angaben zur Sache habe er anschließend in einem Vernehmungszimmer machen sollen. Er habe die Aussage verweigert. M. sagt: „Ich habe weder ein Durchsuchungs- noch ein Vernehmungsprotokoll von der Polizei bekommen.“ Anschließend soll M. von den Polizisten wieder in seine Wohnung gebracht worden sein.
Warum dieser Fall für M.s Anwalt einmalig ist
Wie gesagt: Weder Polizei noch Amtsgericht noch Staatsanwaltschaft machen Angaben, aufgrund welcher Aussagen M. als Beschuldigter in einem Strafverfahren wegen Verdachts auf Volksverhetzung geführt werde. M. sagt WELT, es sei um jenen einzelnen X-Beitrag gegangen, in dem das Wort „Parasit“ vorkam.
M.s Anwalt ist Marcus Pretzell, der ehemalige AfD-Politiker. Pretzell hat laut eigenen Aussagen noch keine Akteneinsicht erhalten. Der Fall aber hat für den Juristen, der um die 100 Mandanten wegen Meinungsdelikten betreut, eine besonders bedenkliche Qualität, wie er sagt: „Es ist das erste Mal, dass ich in diesen Fällen erkennungsdienstliche Maßnahmen erlebe.“ Über den Durchsuchungsbeschluss sagt Pretzell: „Eigentlich erfüllt er die formalen Anforderungen an einen Durchsuchungsbeschluss nicht.“ Unter anderem fehle eben der konkrete Tatvorwurf – der X-Post werde ja im Durchsuchungsbeschluss nicht aufgeführt.
Pretzell nennt die Maßnahmen „unsinnig und eindeutig rechtswidrig“. Weiter sagt er: „Die Durchsuchungsmaßnahmen für Meinungsdelikte sind fast nie verhältnismäßig. Das gilt insbesondere für diesen Fall. Schon das Ermittlungsverfahren ist offenkundig rechtswidrig, da die Aussage von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.“
In der Biologie werden Lebewesen „Parasiten“ genannt, die auf Kosten eines Wirtes leben. Bekannte Parasiten sind zum Beispiel Zecken oder Flöhe. Die Nationalsozialisten gebrauchten das Wort, um Juden zu verunglimpfen.
M. weist jegliche Nähe zum Nationalsozialismus von sich. In zahlreichen Beiträgen auf X kritisiert M. Antisemitismus und Rassismus. M. sagt: „Ich verachte Gewalt. Ich verachte Extremismus. Ich verachte Nationalsozialismus, Sozialismus und Kommunismus.“ Er beziehe sich in seinem Vokabular auf den argentinischen Präsidenten Javier Milei. Der hatte in seinen Wahlkampf die politische Elite Argentiniens mehrfach als „Parasiten“ bezeichnet.
Nicht nur Milei benutzt solche Wörter. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) äußerte beispielsweise Anfang 2024: „Die AfD ist eine parasitäre Partei.“ Und 2005 veröffentlichte der damalige Bundesarbeitsminister Wolfgang Clement (SPD) eine Broschüre, in der er Erwerbslose, die schwarz arbeiten, als „Parasiten“ bezeichnete.
Frédéric Schwilden ist Autor im Politik-Ressort. Er interviewt und besucht Dorf-Bürgermeister, Gewerkschafter, Transfrauen, Techno-DJs, Erotik-Models und Politiker. Er geht auf Parteitage, Start-up-Konferenzen und Oldtimer-Treffen. Seine Romane „Toxic Man“ und „Gute Menschen“ sind im Piper-Verlag erschienen.
