

Im November 1895, vor genau 130 Jahren, entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen an der Würzburger Universität die Strahlen, die im deutschen Sprachraum nach ihm benannt sind. Zum ersten Mal konnte damit ins Innere von Körpern und Objekten geschaut werden, ohne diese physisch öffnen zu müssen. Da dieser gleichsam göttliche Blick ein menschheitsalter Traum ist, allerdings als alles durchdringender auch ungeheure Gewalt verleiht, lautet der Titel der Jubiläumsausstellung in achtzehn Kapiteln in der kolossalen Industriekathedrale der Völklinger Weltkulturerbe-Gebläsehalle zu Recht „X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks“ – die Potenz dieser Technik wie auch die Bedeutung des genauen, kunstvollen Sehens werden integral verknüpft.
Im Grunde wollten Künstler anderen Menschen allerdings immer schon in die Seele blicken oder diese in langwierigen Modellsitzexerzitien durchschauen, zumindest aber wie Röntgenstrahlen Unsichtbares wie eine Aura sichtbar machen. Das höchstwahrscheinlich im Mittelalter gemalte Turiner Grabtuch – in Völklingen als Beleg für den wissenschaftlichen Versuch des Echtheitsbeweises durch eingesetzte Röntgentechnik in Kopie ausgestellt – hält einen wie geröntgt erscheinenden Christus mit markant hervortretenden Rippen in den bis heute kanonischen Farben dieser Technik schwarz-weiß fest. Die mittelalterlichen Totentänze und Vanitas-Darstellungen schauen durch das Äußere und den Stand hindurch bis aufs Gerippe.
Leonardo da Vinci und durchleuchtete Falschspieler machen den Auftakt
Röntgenbilder haben somit eine Vorgeschichte, doch fast sofort mit Bekanntwerden der Entdeckung vor allem eine Präsenz in der Kunst und eine Zukunft, die bis heute anhält – nur dass diese fortwährend futuristischer wird. Lediglich zwei Jahre nach Röntgens Fund dreht der englische Regisseur George A. Smith einen Kurzfilm, in dem ein Skelett-Pärchen auf einer Parkbank sitzt, er saufend, sie mit ebenfalls bis auf die Metallrippen skelettiertem Sonnenschirm, während von der Seite eine Röntgenkamera auf sie gerichtet ist. Was hier noch von der Requisite liebevoll-murkelig aufgemalte Gerippe auf schwarzen Kostümen sind, wird schon wenig später durch echte Röntgenfilme ersetzt. Die ultimative Voyeursmetapher des unter Röcke und Kleider schauen könnenden Spannerröntgenblicks oder solcher Brillen zieht sich bis in aktuelle Pornoproduktionen.
Im Comic, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, besitzt Superman den gottgleichen Penetratorenblick, was seine Pflegemutter in der Bildgeschichte Superboy seufzen lässt, vor ihm könne sie rein gar nichts verbergen, ebenso wenig wie eine Schulfreundin ihre neuen Silikonbrüste vor Supergirl.
Warum die Röntgen-Schau perfekt in das Ambiente des ehedem größten Stahlwerks Europas passt, erklärt sich aus der verführerischen Mischung des Komplexes selbst – einstige Hochtechnologie, die zugleich wie eine futuristische Großskulptur wirkt – und dem sehr konkreten Einsatz der X-Rays zur materiellen Prüfung des Stahls und zum Röntgen der kranken Lungen der Hüttenarbeiter. Der Medienkünstler Christoph Brech hat das zynisch-geflügelte Wort von damals, „Die Lunge ist die Gebläsehalle des Arbeiters, und die Gebläsehalle ist die Lunge der Fabrik“, in ein Atem nehmendes Monumentalglasfenster mit Dutzenden völlig verdreckten Lungenflügeln der Völklinger Malocher verwandelt, das auch nach Ende der Schau dort bleiben wird. Es verbildlicht, dass das in Tuberkulose-Zeiten am häufigsten geröntgte Organ so individuell unterschiedlich ausfällt wie ein Fingerabdruck.
Aus Gesundheitsgründen allerdings auch folgte dem Siegeszug der Strahlen alsbald ein Bruch, da nicht nur Anna Bertha, Frau und erstes Versuchsobjekt Röntgens, deren ikonisches Handporträt mit Ehering gezeigt wird, an Krebs erkrankte, sondern viele Tausend andere auch. Wachsmoulagen strahlenverbrannter Gesichter und Fotos von Dermatitis entstellter Hände belegen das, ebenso die Aufnahme eines französischen Röntgenassistenten des tuberkulosegeplagten Ersten Weltkriegs mit dicker Bleischürze und skurril mittelalterlich wirkendem Bleihelm. Auch der Film über Röntgen von 2009 mit Sandra Hüller sah den einstigen Helden kritisch.
Hitler vorm Röntgenschirm
Im Kapitel zu den „Strahlen in Politik und Geschichte“ finden sich John Heartfields Anti-NS-Plakate wie „Adolf, der Übermensch: Schluckt Geld und redet Blech“, auf denen wie in Fritz Kahns „Der Mensch als Industriepalast“ von 1926 Hitlers Körper durchleuchtet und dadurch bis auf das eingeworfene Schmiergeld als hohl entlarvt wird oder ein Arzt eine (politische) Rückgratverkrümmung sarkastisch durch das „ewige Heil Hitler“-Gegrüße erklärt. Erschreckend bleibt, wie Unrechtssysteme à la DDR nicht nur die Autos der Westbesucher an den Grenzübergängen röntgten, sondern auch Regimegegner gefährlich starken Dosen zur Markierung und vor deren Häusern aussetzten.
Doch was wären genuin künstlerische Aspekte der Technik? Vor allem bei Selbstbildnissen von Künstlern hilft sie, wenn etwa Frida Kahlo sich 1944 auf „Die gebrochene Säule“ mit Korsett, Nägeln und ionischer Säule anstelle der Wirbelsäule in ihrem Innern porträtiert, um die Verheerungen ihres grauenhaften Unfalls neunzehn Jahre zuvor in ein Bild zu fassen, oder Isa Genzken sich in einem Triptychon beim Alkohol-Abusus durchleuchtet. Auch Meret Oppenheim zeigt sich in ihrem Selbstporträt „Röntgenaufnahme des Schädels M.O.“ von 1964 nicht mit Pelztasse, sondern mit auffälligen Ohrringen im Profil. Und Jürgen Klauke steuert mit seinem Röntgenprofil eine moderne Variante des Vanitas-Stilllebens bei. Wim Delvoye überbietet diese quasireligiösen Suchen nach Seele und Wesen von Personen noch, wenn er eine reale kleine Gothic-„Chapel“ aus Stahl auf dem Fliesenboden der Industriekathedrale errichtet, deren Spitzbogenfenster aus goyaesken Röntgenbildern bestehen.
Ist das Bauhaus „Röntgen-Architektur“?
Eine überraschende, recht junge These präsentiert der heutige Hütten-Direktor Ralf Beil gleich noch dazu: Ausgehend von der Publikation Beatriz Colominas von 2019 dürften die Bauten des Bauhauses als „Röntgen-Architektur“ verstanden werden, insofern ihr Hauptmerkmal gläserner Transparenz aus der Idee gesund durchlichteter Büro-, Krankenhaus- und Zauberberg-Sanatorien stamme. Eindrücklicher Beleg ist Beil Mies van der Rohes Wettbewerbsbeitrag für ein Bürohochhaus an der Friedrichstraße von 1921, das tatsächlich wie ein Röntgenpatient mit gläsernen Rippen und Wirbelsäule am Ufer der Spree steht. Doch findet sich auch bei Alvar Aalto, Richard Neutra, Albert Kahn und William Gansters Lake County Tuberculosis Sanatorium reichlich lichte Baukunst für die These.
Die Diagnose gegen Ende, gerade einmal vier Prozent dessen, was im All insgesamt existiert, seien für unbewehrte Augen sichtbar, der große Rest nur mit Tech-Hilfe wie etwa Röntgenstrahlen zu veranschaulichen, offenbart noch einmal den alten Menschheitstraum eines quasi göttlichen Blicks mit technischer Verstärkung. Wie ein Treppenwitz der Geschichte erscheint, dass der europäische Röntgenteleskop-Satellit eRosita aufgrund von Russlands Eroberungskrieg seit 2022 lahmgelegt im Weltraum herumgondelt, da das kleinwagengroße Gerät kostensparend auf der russischen Plattform Navigator aufgebaut ist. Nicht zum letzten Mal kommen hier Macht und Blick im Medium der Röntgenstrahlen zusammen.
X-Ray. Die Macht des Röntgenblicks. Völklinger Hütte; bis 16. August 2026. Katalog folgt.
