Warum wir Menschen immer gestresster werden

Herr Rosa, was tun Sie, wenn Sie gestresst sind?

Wenn ich zu gestresst bin, kaufe ich CDs. Je gestresster ich bin, desto mehr CDs kaufe ich. Insofern bin ich auch ein Konsumopfer. Und ja: Auch ich schaue nach, wie viele Schritte ich im Jahr gehe, und ob ich mehr gelaufen bin als im Vorjahr.

Woher kommt das Gefühl, gestresst zu sein und zu wenig Zeit zu haben?

Dass wir Menschen das Gefühl haben, zu wenig Zeit zu haben, ist zeitlos. Es gehört ein Stück weit zur Existenz, weil unsere Lebenszeit begrenzt ist. Sie ist irgendwann abgelaufen, die Uhr tickt gnadenlos. Das erzeugt ein Unbehagen oder gar eine Angst, weil wir nicht alles von der Welt sehen können und jede Entscheidung nur einmal getroffen werden kann. Im Gegensatz zu früheren Zeiten zeigt sich aber in der Moderne, dass viele Menschen kaum noch abschalten können – obwohl die offizielle Durchschnittsarbeitszeit im Laufe der Jahre abgenommen hat. Wir haben das bedrückende Gefühl, nie genug zu tun, noch diese eine Mail schreiben und die Kollegen unterstützen zu müssen. Die To-do-Liste scheint zu explodieren – und das nicht nur auf der Arbeit. Der Lebenspartner fragt: Hast du an das Geburtstagsgeschenk gedacht? Der Arzt fragt: Gehen Sie auch regelmäßig joggen? Und die Freunde fragen: Denkst du bitte an die gemeinsame Yogastunde am Dienstag? Das alles sind Erwartungen, die ich selbst als legitim empfinde. Diese Erwartungshaltung nimmt aber zu – und sie stresst uns. Je mehr Zeit wir sparen wollen, desto gestresster sind wir. Beim Versuch, Zeit zu sparen, verlieren wir Zeit.

Was ist also das Problem: der tatsächlich gestiegene Leistungsdruck, der von Chefs, Kollegen sowie Familie und Freunden ausgeht – oder die eigenen Erwartungen und Ansprüche?

Das Gefühl, immer zu wenig Zeit zu haben, hängt mit der Struktur unserer Gesellschaft zusammen. Sie ist gekennzeichnet durch dynamische Stabilisierung. Das heißt: Nur wenn wir in einer bestimmten Zeit immer mehr schaffen, wenn wir Wirtschaftswachstum erzeugen, ist unsere Gesellschaft stabil. Egal, ob es um den Erhalt von Arbeitsplätzen oder um den unserer Sozialsysteme geht: Wir sind auf Wirtschaftswachstum angewiesen. Die Grundformel lautet: Innovation, Beschleunigung und Wachstum. Damit sind wir ständig im Optimierungsmodus: Was könnte ich noch besser und noch schneller tun? Mein Lieblingsbeispiel ist die E-Mail. Früher hat jemand vielleicht in einer Stunde zehn Briefe geschrieben, jetzt schreibt er 20 E-Mails. Das messbare Ergebnis ist höher – aber wahrscheinlich auch der empfundene Stress und die Erwartung, in einer Stunde in Zukunft noch mehr E-Mails schreiben zu können. In einer Beschleunigungsgesellschaft ist die Zeit immer knapp. Das ursprüngliche Versprechen in einer kapitalistischen Gesellschaft war Sicherheit und Kontrolle eben durch Innovation, Beschleunigung und Wachstum. Aber viele Menschen erleben das Gegenteil: Sie fühlen sich unsicher, dauergestresst und überfordert. Was ich dabei betonen möchte: Dieses Prinzip der dynamischen Stabilisierung ist kein Naturgesetz. Dass unsere derzeitige Gesellschaft ständig wachsen soll, gab es so vor der Moderne noch nicht. Wir leben in einem von uns selbst geschaffenen Zwangssystem, das dummerweise mehr Unzufriedenheit als Zufriedenheit schafft. Das zentrale Problem unserer Gesellschaft ist, dass sie Entfremdung fördert.

Was genau meinen Sie mit Entfremdung?

Dass mir die Dinge, Wesen und Personen um mich herum fremd erscheinen. Dass ich in keiner tiefgehenden, emotionalen Beziehung mit ihnen und der Welt mehr stehe. Konkret merke ich das zum Beispiel im Beruf, wenn ich sage: Ich hasse die Aufgaben, die Kollegen und das Ziel dahinter, aber ich mache es trotzdem – etwa wegen des Gelds. Das nenne ich eine beziehungslose Beziehung.

Zu sich selbst findet er beim Musikhören oder beim Orgelspielen – wie hier in der Auferstehungskirche in Grafenhausen im Südschwarzwald.
Zu sich selbst findet er beim Musikhören oder beim Orgelspielen – wie hier in der Auferstehungskirche in Grafenhausen im Südschwarzwald.Martin Albermann

Woran genau merke ich, dass ich entfremdet bin?

Wenn ich mir ständig die Frage stelle: Warum tue ich mir das eigentlich an? Was mache ich hier eigentlich? Das Gefühl, das sich zu den Personen, Dingen und Orten in meinem Umfeld einstellt: Es spricht nicht zu mir, es geht mich nichts an, es ist mir ein Stück weit gleichgültig. Was noch hinzukommt: Ich habe das Gefühl, auf all das keinen Einfluss nehmen zu können. Ich fühle mich ohnmächtig und wirkungslos. Lehrer, die kurz vor dem Burnout stehen, sind ein gutes Beispiel für Entfremdung. Manche sagen dann: Ich erreiche die Schüler nicht mehr, sie haben keine Lust mehr auf mich und ich nicht auf sie.

Also sollten wir alle einmal runterkommen und entschleunigen?

Ich plädiere nicht per se für Entschleunigung, sondern für Resonanz. Dafür wichtig sind mehrere Komponenten: Ich habe ein echtes, von mir selbst kommendes Interesse an Menschen, Lebewesen, Dingen und Tätigkeiten. In einer resonanten Beziehung stehe ich zu diesen, wenn ich das Gefühl habe, etwas bewirken zu können – ob als Arbeitnehmer, Freund oder Lebenspartner. Was außerdem entscheidend ist: Ich fühle mich dabei lebendig. Es geht um eine dynamische Verbundenheit mit dem, was ich tue. Das geschieht als Transformation von Welt: Ich verwandele mir die Dinge an, egal was – und verwandle mich dabei selbst. Dann stehe ich in einer dynamischen, resonanten Beziehung zur Welt.

Aber ist es nicht gefährlich, immer nur in Resonanz leben zu wollen?

Tatsächlich braucht ein gelingendes Leben beides: Entfremdung und Resonanz, sie sind aufeinander angewiesen. Oft braucht es zunächst eine Entfremdungserfahrung, ich muss also erfahren, was meinem Leben schadet, um herauszufinden, was gut für mich ist. Ein gutes Beispiel ist die Pubertät: Der Körper verändert sich, die Hormone überfordern möglicherweise, und ich muss Lehrer, Mitschüler und Eltern aushalten – all das kann ich als Entfremdung wahrnehmen. Zugleich kann das die Grundlage dafür sein zu erfahren, wer man eigentlich ist und was man vom Leben will. Die Depression hingegen ist ein Beispiel für eine vollständige Entfremdung, der man nichts abgewinnen kann.

Fühlt sich Resonanz immer gut und angenehm an?

Nein, Resonanz ist kein Gefühl und fühlt sich manchmal auch gar nicht so spaßig an. Resonanz ist ein Moment der Elektrisierung, das auch traurig machen und überfordern kann. Jetzt kommen wir zur vierten Komponente von Resonanz: Unverfügbarkeit. Dass mich etwas wirklich interessiert, dass ich etwas bewegen kann, dass ich mich dabei auch lebendig fühle – all das weiß ich vorher nicht. Ich kann Resonanz nicht erzwingen. Ich kann nur mit einer offenen Haltung durch die Welt gehen, also offen für neue Personen, Hobbys und Erfahrungen sein. Ob sich dabei eine resonante Beziehung entwickelt, weiß ich aber erst, wenn ich es ausprobiere. Das ist ein Risiko und kann frustrieren. Frustrationstoleranz ist also eine wichtige Fähigkeit für ein gelingendes Leben. Aber selbst wenn ich elektrisiert bin, kann sich das bedrückend anfühlen. Wenn ein für mich wichtiger Mensch stirbt, fühle ich eine tiefe, resonante Verbundenheit. Resonanz kann sich auch in Tränen zeigen. Sich auf Resonanz einzulassen bedeutet, sich verwundbar und verletzbar zu machen. Das fällt vielen heutzutage sehr schwer.

Eben weil wir in einer Gesellschaft leben, die auf Innovation, Beschleunigung und Wachstum angewiesen ist, sind wir ständig dabei, Dinge zu berechnen und unter Kontrolle zu bringen. Das mindert aber die Chancen für resonante Beziehungen.

Woran zeigt sich das im Alltag?

Wir suchen oft nicht mehr den direkten Kontakt zu Menschen, sondern über Apps. Um Freunde zu finden oder etwa Lebenspartner. Damit wollen wir Enttäuschung minimieren und den Erfolg maximieren. Gerade dieser Optimierungs- und Kontrollversuch verhindert aber oft Resonanz. Die Optimierungsgesellschaft zeigt sich auch im Verhältnis zu mir selbst – etwa wenn ich meine Schritte zähle und meine Ernährung anpasse, um bestimmten Idealen zu entsprechen. Nach der Logik der Effizienzgesellschaft ist es irrational, sich auf Resonanz einzulassen, weil es dann als unkontrollierbar und ineffizient gilt.

Stimmt das überhaupt? Wenn ich ein Produkt kaufe, geht es doch um ein Angebot, das individuell zu mir passt. Die Wirtschaft wirbt doch mit Resonanzerfahrungen.

Ja, aber das ist eine Täuschung. Uns wird vorgegaukelt, dass diese eine Creme, diese eine Kreuzfahrt, dieses eine T-Shirt genau zu mir passen und Ausdruck meiner Selbstverwirklichung sind. Unternehmen verkaufen aber keine Produkte und Dienstleistungen, um uns zufrieden zu machen, sondern in erster Linie, um Geld zu verdienen. Gerade, weil sich dabei Resonanz oft nicht einstellt und wir unzufrieden sind, kaufen wir das nächste Produkt, damit sich das hoffentlich bald ändert. Resonanz und ein gelingendes Leben lassen sich aber nicht kaufen.

Lebt es sich in einem kapitalistischen Deutschland 2025 nicht viel resonanter als etwa im Mittelalter?

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin weder gegen Wachstum noch gegen Innovation und Wettbewerb an sich. Ich kritisiere den gesellschaftlichen Zwang – also dass wir als Gesellschaft immer weiter wachsen müssen, immer schneller und besser werden müssen. Politische und religiöse Repression ist ein absoluter Resonanzkiller, und davon gab es in Deutschland in der Vergangenheit viel mehr als heute. Früher war auf gar keinen Fall alles besser. Der sogenannte Neoliberalismus zeigt sich heute an wechselseitig übertriebenen Erwartungen: Nicht nur mein Arbeitgeber erwartet, dass ich mich ständig verbessere und dabei auch noch für den Job brenne, sondern auch ich selbst.

Also sind es doch wieder falsche eigene Erwartungen und Einstellungen.

Ein Stück weit, ja. Ich beobachte das bei Schülern, mit denen ich eine Sommerakademie veranstalte. Früher wollten die jungen Menschen trinken, feiern und die Sau rauslassen – und wir mussten sie einschränken. Heute schränken sich viele selbst ein – die trinken kaum noch und bleiben von sich aus auf dem Zimmer.

Nicht unbedingt. Dahinter steckt eine wahnsinnig große Angst vor der Gesellschaft und der Zukunft: bloß kein Risiko eingehen, bloß nicht verletzt werden. Wenn ich Studenten nach ihren Wünschen frage, bekomme ich oft die Antwort: Es geht eh alles den Bach runter, ich bekomme sowieso keinen Job, und meine generellen Chancen stehen schlecht. Es fehlen die Lebenslust und das Vertrauen in das Leben. Mein persönlicher Eindruck ist: Früher waren meine Studenten optimistischer.

Ein Teil des Problems ist die Politik, die immer nur Probleme adressiert und Perspektiven aus dem Fokus rückt. Die Frage, die wir an uns selbst und die Gesellschaft stellen sollten, ist: Wohin gehst du? Und nicht: Was hast du? Oder: Was fehlt dir? Wer immer nur nach Mangel und Fehlern fragt, kommt nicht weiter.

Portrait von Hartmut Rosa vor der Orgel in der Auferstehungskirche Grafenhausen.
Portrait von Hartmut Rosa vor der Orgel in der Auferstehungskirche Grafenhausen.Martin Albermann

Wann sind Sie selbst entfremdet?

Wenn ich mich um die Finanzierung meiner Forschungsprojekte kümmern muss. Ich muss mich dann ständig fragen: Wie verkaufe ich das richtig? Wie kann ich sicherstellen, dass etwas Vorzeigbares dabei herauskommt? Und in welchen Schritten? Das finde ich deprimierend. Ein großer Teil meiner Arbeit ist entfremdet: Anträge und Gutachten schreiben, worauf ich wirklich keine Lust habe.

Wie kommen Sie da wieder heraus?

Allein im Erkennen und Beobachten von Zusammenhängen spüre ich viel Zufriedenheit. Auch in der Natur zu sein oder in der Kirche zu sitzen gibt mir viel. Musik zu hören und Orgel zu spielen ist auch total wichtig für mich.

Was sollte sich politisch ändern, damit Menschen mehr Resonanz erfahren können?

Ich sehe gerade keine Partei, die für die Veränderung eintritt, die ich mir wünsche. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der das Bestehende nicht nur durch Innovation, Beschleunigung und Wachstum aufrechterhalten werden kann. Wir brauchen sinnvolle Veränderung und nicht Veränderung aus Zwang.

In Ihrem Buch „Resonanz“ träumen Sie von einer Postwachstumsgesellschaft und einem bedingungslosen Grundeinkommen. Klingt nach einem konkreten Plan.

Ganz ehrlich: Ich bin von diesem Kapitel selbst nicht mehr so überzeugt. Konkrete politische Ideen als Soziologe zu formulieren ist schwierig. Gerade das bedingungslose Grundeinkommen halte ich aber immer noch für eine gute Idee. Liberale behaupten oft, der Drang des Menschen, immer besser und schneller zu werden, liege in seiner Natur. Ich halte das für Unfug. Der Kapitalismus ist getrieben von menschlicher Angst. Wir haben Angst, morgen arbeitslos zu werden und sozialen Status zu verlieren – vor allem deswegen strengen sich Menschen an. Ein Grundeinkommen könnte diese Angst lindern.

Sollten wir dann weniger arbeiten?

Aus Prinzip die Arbeitszeit zu verringern bedeutet Rückzug aus dem Leben, damit kehrt man auch Resonanzerfahrungen den Rücken. Mit der Arbeit stehen wir mit Menschen in Verbindung und schaffen im Idealfall etwas Produktives und Sinnvolles. Arbeit ist eine unfassbar wichtige Resonanzquelle.

Sollten wir Stress vermeiden oder nach dem Ziel von Stress fragen?

Möglichst wenig Stress zu haben könnte uns wichtige Begegnungen und Resonanzerfahrungen kosten. Zugleich kann zu viel Stress überfordern und in die Entfremdung führen. Ein gutes Beispiel sind eigene Kinder. Die Erziehung ist unfassbar stressig, man nimmt sich die Freiheit, nur für sich selbst Verantwortung übernehmen zu müssen – und das für mindestens 18 Jahre. Zugleich gibt es für viele Eltern keine wertvollere Resonanzerfahrung als Kinder zu bekommen.

Ihr Vorbild Theodor W. Adorno sagte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Hat er Recht?

Nein, der Beschleunigungszwang verringert zwar die Chancen auf Resonanzerfahrungen, aber die Chancen sind an sich immer vorhanden. Jeder kann in seinem Alltag die Wahrscheinlichkeit für tiefe Beziehungen erhöhen, wenn er einsieht, dass sich ein gutes Leben nicht berechnen und erzwingen lässt und offen ist für Neues. Allein jemandem tief in die Augen zu schauen und zu lächeln kann ein kurzer, aber intensiver Moment der Resonanz sein.