Vermutlich wissen noch viele, wo sie sich am Freitag, dem 13. November vor zehn Jahren aufhielten – die Massaker des IS von Paris, im Club Bataclan, auf den Caféterrassen, die Schüsse im Stade de France, bei denen 130 Menschen starben, haben sich eingebrannt ins kollektive europäische Gedächtnis. Dennoch wirken die Jahre um 2015 auch wie ein komplett anderes Zeitalter. Als Islamisten als allgegenwärtige Bedrohung erschienen.
„V13“ wird der traumatische Tag vor zehn Jahren in Frankreich genannt. Erst 2022 kam es zu seiner Aufarbeitung, neun Monate lang: Ein Prozess stellte rund zwanzig Helfershelfer der Terroristen vor Gericht sowie den Bruder des einen Attentäters, der seinen Sprengstoff nicht zündete. Der Schriftsteller Emmanuel Carrère ist ein Spezialist für Traumata – aber an so ein großes hat er sich wohl noch nie gewagt. Warum tat er sich das an? Als Kolumnist vom Nouvel Observateur beauftragt, zog sich Carrère neun Monate lang 1.800 Zeugenaussagen, detaillierteste Berichte des großen Grauens rein, „extreme Lebens- und Todeserfahrungen“, wie es im Stück heißt. Aber: Er suchte und versuchte tief ins Innerste eines jeden einzutauchen, sich dessen Motivlage zu eigen zu machen, mit feinen Antennen und tiefen Fragen nach Schuld, nach Radikalisierung, nach krankhaften Mutationen von Religion, nach der Möglichkeit des Weiterlebens. Kann ein Rechtsstaat so etwas überhaupt aufarbeiten?
Am Schauspiel Köln bringt Regisseur Stephan Kimmig Carrères Gerichtsreportage „V13“ nun erstmals ins Theater, als Teil des dortigen Schwerpunkts „Theater und Journalismus“. Wir sitzen zum Teil mit auf der Bühne, auf einer Sperrholzplatte. Extra gebaut – so wie auch der Gerichtssaal mitten in den Justizpalast auf der Île de la Cité (aus Sperrholz) gebaut wurde. Drei Rolltische mit Projektoren werfen immer wieder illustrierende Schwarz-Weiß-Bilder auf die Wände oder Info-Kästen, später zeigen sie die zwei Schauspieler in Großaufnahmen zum Teil doppelt und in verschieden Größen. Claude De Demo und Stefan Grill, dunkel und diskret gekleidet, ganz im Dienst der Sache. Wie lauernde Tiere kreisen sie um die Tische und rekonstruieren die Tatnacht. Als „Annäherung“, „Versuch“, als ein „Miteinander-Herausfinden“ wollen sie ihre Bühnenarbeit verstehen – so genau wissen sie es selber nicht und fragen ins Publikum, berichten, lesen vor, schlüpfen in Rollen. Teilen den Abend auf in „Die Opfer“, „Die Angeklagten“, „Das Gericht“.
Krasse Schilderungen hören wir vom Bataclan
Das gibt zum Teil unerträglich detaillierte Einblicke in das Geschehen. Krasse Schilderungen etwa hören wir vom Bataclan, dem Konzert-Massaker. Halbe Wangenhälften, wo tut man dann die Zähne hin? Konfettiregen aus Fleischstücken, Matsch aus Blut, Todesarten für 90 Menschen in zehn Minuten. Wir hören von einem „Auserwählten“ aus den Opfern, den die Terroristen als „einen der ihren“ auf die Bühne bitten. Carrère sucht und fragt und zieht sich das Grauen rein, und die zwei Schauspieler reenacten es, erzählen es nach, werden zum Medium, das es wieder auferstehen lässt.
Danach sind die Terroristen und Angeklagten dran – die meisten von ihnen sind, wissen wir, tot. Buchstabenkolonnen rauschen über die Sperrholzwand. Namen, Geburtsdaten, Orte. Wir erfahren, dass keiner von ihnen ein Sozialfall war. Keine Armutsradikalisierung. Dass die These von der Unterprivilegiertheit der Terroristen nicht funktioniert. Dass Drahtzieher Abdelhamid Abaaoud auf eine katholische Privatschule ging, Jetski- und Bizeps-Bilder postete. Radikalisiert wurden er und die anderen durch salafistische, in Europa erlaubte Moscheen und durch ihre eigene Suche nach Identität. Das gibt immer wieder Erkenntnisblitze – aber vor allem erfüllt es den Zuschauer mit einer Art atemlosen Voyeurismus. Eine genießerische Theaterqual.
So sadistisches Propagandamaterial wie vom IS habe es nie vorher gegeben, hören wir: Normalerweise verstecken totalitäre Regime ihre Folterarbeit. Hier wurde sie zu Werbezwecken verbreitet. „Warum“?, fragt Schauspielerin Claude De Demo immer wieder energisch, fast penetrant ins Publikum. Fast sind sie und ihr Kollege selbst im Empörungs- und Anklagemodus. Es wirkt anstrengend, aber auch intensiv. Dann geht es noch einmal um die Opfer, Aussagen der Überlebenden. Einblicke in zerstörte Leben, vielleicht kathartische Erzählungen: Claude De Demos Stimme verändert sich, zittert, wird zart und zerbrechlich.
Das reale Böse, ist trist, banal und öde
Sie erzählt, wie Nadia ihre Tochter verlor. Die letzte SMS. Das Warten auf Lebenszeichen. Wie sich ihr Mann, der Vater, erst als Aktivist engagiert, später aus Trauer umbrachte. Immer wieder fischt Carrère Sätze aus Zeugenaussagen, die einschlagen, Wucht entfalten, auch auf der Bühne: „In dem Moment geht eine Falltür auf, wir stürzen und sind nicht mehr von dieser Welt“, beschreibt Nadia den Verlust der Tochter bestürzend präzise. Oder das kraftvolle Zitat vom realen Bösen, das man sich romantisch vorstellt und das doch so trist, banal und öde ist – während das Gute im Roman langweilt, real erlebt aber berauscht und inspiriert.
So reihen sich die Geschichten aneinander, formen sich zu bedrückenden, quälenden, manchmal inspirierenden Tableaus. Doch geht kaum etwas daran über eine Internetrecherche, über Stückwerk hinaus. Denn an diesem Abend gibt es eine Leerstelle: die des Autors selbst. Seine Motivation, Perspektive, Suche, was ihn trieb – werden von niemandem erzählt. Wir wissen nicht, warum er sich die Qualen des Prozesses angetan hat. Was er daraus gelernt hat. Wir vermissen seine Zweifel, seinen Überdruss. So fehlt diesem perverserweise unterhaltsamen Abend der schauerlichen Fakten ein Zentrum, ein Grund – und eine Erkenntnis.
