Ganz zu Beginn von „Eddington“ betritt der Sheriff jener fiktiven Stadt im US-Bundesstaat New Mexico, die Ari Asters Film ihren Namen gibt, einen Supermarkt – ohne Maske. Heute würde das niemanden mehr stören, zum Zeitpunkt der Filmhandlung, Ende Mai 2020, sorgt das dagegen selbst im konservativen Amerika für Irritationen.
Doch bevor Querdenker und solche, die immer noch glauben, dass Corona eine von der Pharmaindustrie inszenierte Verschwörung war, ins Kino stürmen, da hier scheinbar endlich mal ein Filmemacher die absurden Coronaregeln entlarvt: So einfach macht es Ari Aster sich und dem Publikum selbstverständlich nicht.
Genauso wenig wie es sich Luca Guadagnino und Giorgos Lanthimos in ihren zuletzt ebenfalls in Deutschland gestarteten Filmen „After the Hunt“ und „Bugonia“ leicht gemacht haben. Statt eindeutiger Positionen wählten alle drei Regisseure Ambivalenz; statt klare Antworten zu geben, stellen sie Fragen und sezieren in ihren filmischen Versuchsanordnungen die extreme Polarisierung, die nicht nur die US-amerikanische, sondern auch die meisten anderen westlichen Gesellschaften zunehmend plagt.
Ein abgehalfterter Typ
Polarisierung wegen der Covidepidemie bestimmt auch die Figurenanordnung in „Eddington“: Auf der einen Seite steht Sheriff Joe Cross, gespielt von Joaquin Phoenix, ein abgehalfterter Typ, der seinen Job mehr schlecht als recht erledigt und den Alltag zu Hause mit zwei komplizierten Frauen zubringt: Seine von psychischen Problemen geplagte Frau Louise (Emma Stone) und deren alternde Mutter Dawn (Deidre O’Connell). Dawn wird im Internet von bizarren Verschwörungstheorien getriggert.
„Eddington“. Regie: Ari Aster. Mit Joaquin Phoenix, Pedro Pascal u. a. USA 2025, 145 Min.
Sein Gegenpol heißt Ted Garcia (Pedro Pascal), Bürgermeister der Stadt, jovial und gutaussehend, lässig und mit seinem Leben und vor allem mit sich selbst mehr als zufrieden.
Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Aster eine zunehmend absurde, exaltierte Satire, die an einem schwarzen Tag der jüngeren US-Geschichte eskaliert, am 25. Mai 2020. An diesem Tag kam in Minneapolis der Schwarze George Floyd durch brutale Polizeigewalt ums Leben, im Gegensatz zu vielen anderen ähnlichen Taten gefilmt von mehreren Handykameras. Trotz der Einschränkungen durch die Pandemie kam es in der Folge zu landesweiten Protesten, die der bereits existierenden Black-Lives-Matter-Bewegung weiteren Zulauf bescherten – teils von weißen Demonstranten angeführt.
Unter die Nase gerutscht
Für diese selbst ernannten Tugendwächter, die gerade auch gerne Schwarzen Amerikanern vorschreiben wollen, wann und wie sie zu protestieren haben, hegt der Regisseur wenige Sympathien. Das zeigt Ari Aster in einer der pointiertesten Szenen von „Eddington“: Eine weiße Demonstrantin mit unter die Nase gerutschter Maske schreit einen Schwarzen Polizisten an und fordert ihn auf, sich den BLM-Protesten anzuschließen.
„Ich weiß, ich habe keinen Rassismus erfahren, das ist nicht mein Kampf, ich bin heuchlerisch“, schreit sie zunehmend hysterisch, bis schließlich ein weiterer, ebenfalls weißer Demonstrant den Schwarzen Polizisten auffordert, niederzuknien, „Take a knee“, so wie es der US-Football-Profi Colin Kapernick aus Protest bei einem Spiel vormachte. Selten wurden Überheblichkeit und übergriffiges Verhalten zeitgenössischer Protestbewegungen so präzise auf den Punkt gebracht wie hier.
Gegenspieler: Sheriff Joe Cross (Joaquin Phoenix) und Bürgermeister Ted Garcia (Pedro Pascal)
Foto:
Leonine
Aber um das noch einmal zu betonen: Aster schlägt sich auf keine der vielen Seiten in diesem zweieinhalbstündigen ausufernden Filmexzess. Weder der nominelle Protagonist Joe Cross lässt sich als Sympathiefigur verstehen (erst recht nicht nach seinen im Fieberwahn begangenen Morden), noch der liberale, weltoffene Bürgermeister Ted Garcia.
Alle bekommen ihr Fett weg
Auch wenn dieser als Mann lateinamerikanischer Herkunft (gespielt von Pedro Pascal, einem der aktuellen Hollywood-Darlings) im gerne zur schematischen Zuordnung neigenden US-Kino eigentlich als Held prädestiniert wäre; sowohl linke Demonstranten, als auch die rechten Verschwörer bekommen ihr Fett weg. Zum Ende artet „Eddington“ in ein blutrünstiges Gemetzel aus.
In Ari Asters USA scheinen sämtliche Seiten den Verstand verloren zu haben, ist längst jede Spur von Vernunft und Gelassenheit abhanden gekommen, hat die Polarisierung der Gesellschaft ihren blutigen Tiefpunkt erreicht.
Ähnlich wie in Giorgos Lanthimos Satire „Bugonia“, die es sich ebenfalls verkneift, in ihrem Rededuell zwischen einem Verschwörungstheoretiker und der Chefin eines Pharmakonzerns einseitig Partei zu ergreifen oder wie in Luca Guadagninos Thriller „After the Hunt“, in dem es die #Metoo-Bewegung ist, die Ausgangspunkt eines ambivalenten Dramas ist, in dem nicht selbstverständlich einem möglichen Opfer sexueller Übergriffe Vertrauen geschenkt wird.
Am Ende ein Gewaltexzess
Drei Filme von drei der interessantesten Regisseure des zeitgenössischen Kinos, drei teure Produktionen, deren Besucherzahlen in den US-Kinos deutlich hinter den Erwartungen zurückblieben. Die Vermutung liegt nahe, dass das zumindest zum Teil daran liegt, das auf den jeweiligen Feldern beim Kulturkampf keine klare Position bezogen wird, das beiden Seiten Gehör geschenkt wird oder – im Falle von Ari Asters „Eddington“ – beide Seiten als problematisch beschrieben werden und am Ende ein Gewaltexzess steht.
Ein gewisses Maß an Hoffnungslosigkeit mag man hier konstatieren, ein unbestimmtes, ungutes Gefühl, dass die Polarisierung der nicht nur US-amerikanischen Gesellschaft inzwischen ein Maß erreicht hat, bei dem ein Überwinden der Gräben kaum möglich scheint. Sich angesichts der Zustände der westlichen Welt in brachialen Zynismus zu flüchten, mag zwar langfristig wenig sinnvoll erscheinen, zumindest kurzfristig sorgt es für großes Vergnügen.
