Buch über Maoisten im Osten Indiens: Wenn Kaste zu Klasse wird

Wie kommt eine britische Wissenschaftlerin dazu, mit einem Trupp maoistischer Guerillakämpfer einen Nachtmarsch über 250 Kilometer durch die bewaldeten Hügel Ostindiens zu unternehmen? Sich dabei als männlicher Soldat zu verkleiden und sieben Nächte lang der Verfolgung durch Spezialkräfte der Regierung gewärtig sein zu müssen?

Eine Antwort findet sich in der Biografie von Alpa Shah, deren Eltern und Großeltern aus dem indischen Gujarat nach Kenia und später nach England emigrierten. Shah richtete als Ethnologin ihr Forschungsinteresse auf die „Adivasi“ (Ureinwohner) Ostindiens und lebte insgesamt viereinhalb Jahre unter ihnen. Die maoistischen Guerillas hielt sie zunächst für bloße Schutzgelderpresser, bis sie feststellte, dass sie in der indigenen Bevölkerung tief verwurzelt waren.

Warum gewähren indische Indigene maoistischen Guerilla-Kämpfern Unterschlupf und Unterstützung? Die Gründe dafür lassen sich in Shahs Studie „Ground down by Growth“ („Durch Wachstum geschleift“) von 2017 nachlesen. Zusammen mit ihrem Co-Autor Jens Lerche kommt Shah dort zu dem Ergebnis, dass Indien sich im Zuge der Globalisierung zu einem tief gespaltenen Land entwickelt hat, dessen Unterklassen nach einer rasanten Industrialisierung unter noch schlechteren Bedingungen leben müssen als zuvor.

Kaste wird zur Klasse

Wer nicht zu den gehobenen Kasten der vorindustriellen Ordnung gehörte, ist auch in den Fabriken, Bergwerken und Baustellen des neuen Indien in ungelernter, prekärer und besonders stark ausgebeuteter Arbeit tätig. Kaste wird zu Klasse. Hinzu kommt, dass die wenigen Sicherheiten verschwunden sind, die die unfreie Arbeit auf den Plantagen und in den Haushalten der Wohlhabenden den Dalits in der Vergangenheit boten. Die Adivasi wiederum haben durch das Vordringen von Bergwerken und Fabriken auf ihre angestammten Gebiete vielerorts die Möglichkeit zum traditionellen Wanderfeldbau, zur Jagd und zum Sammeln von Früchten verloren.

Das Buch

Alpa Shah: „Nachtmarsch. Unterwegs mit Indiens vergessenen Guerillas“. Aus dem Englischen von David Sumerauer. Edition Trickster, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2025, 336 S., 24 Euro

Shah wollte wissen, wie die „Naxaliten“, wie sich die maoistische Bewegung nach einem Aufstand in Naxalbari 1967 nennt, in diesem Umfeld erfolgreich werden konnten und wie eine solche Untergrundarmee funktioniert. So kam es zu ihrer Teilnahme am Marsch eines Trupps, der sich, um der Verfolgung durch die Spezialkräfte der Regierung zu entgehen, durch die unwegsame Hügellandschaft Ostindiens bewegte. Die sieben Nächte des Marschs schildert Shah in der Form eines Reiseberichts. Von einzelnen ihrer Erlebnisse lässt sie sich zu grundsätzlichen Überlegungen zu den Merkmalen und Problemen der naxalitischen Untergrundarmee anstoßen, die sie in ihren Bericht einfügt.

Shah erzählt davon, wie sie Kontakt zum Anführer des Trupps herstellt, wie sie, unterbrochen von einem bedrohlichen Aufmarsch der Spezialkräfte, in ein geheimes Militärlager der Naxaliten gebracht wird, wie sich der Marsch mit seinem Gleichschritt, seinen Kommandos, den Ruhepausen gestaltet. Sie berichtet von Erschöpfung und Gefahr. Ihre Schilderungen lesen sich streckenweise wie ein Abenteuerroman.

Wie ein Fisch im Ozean

Dass sich die Naxaliten mit der indigenen Bevölkerung so eng haben verbinden können, liegt – so findet Shah heraus – vor allem daran, dass die Bewegung konsequent die Probleme der Adivasi adressiert und deren Lebensweise Respekt entgegenbringt. So können sich die Guerillas, wie einst von Mao gefordert, unter den Indigenen bewegen „wie ein Fisch im Ozean“.

Als der Trupp einmal in die Nähe einer Siedlung kommt, werden Boten ausgeschickt, die 30 Familien auffordern, ihr Abendessen mit den Guerillas zu teilen – das klappt. Die Entscheidung der Naxaliten, ihre politischen Ziele unter Einsatz von Gewalt zu verfolgen, verurteilt Shah nicht grundsätzlich, zeigt aber die negativen Konsequenzen auf: Immer stärker müssen sich die Ak­ti­vis­t:in­nen mit militärischen Fragen befassen, auf Kosten der Weiterentwicklung ihres politischen Programms. Die oft betrügerische oder gewaltsame Akquise finanzieller Mittel bringt einen Typus korrupter Funktionäre mit zweifelhafter Loyalität hervor.

Gegen diese Tendenz steht der von Shah mit großer Wärme gezeichnete Anführer Gyanji, der – seinem Aufwachsen in einer gehobenen Kaste ungeachtet – ein bescheidenes und den Zielen der Bewegung gewidmetes Leben führt. Seine persönlichen Aussichten sind düster: Irgendwann werden die Spezialkräfte der Regierung ihn aufspüren und er wird in einem ihrer geheimen Gefängnisse den Tod finden. Warum nimmt er das in Kauf? Shah vermutet, dass er vom Ethos der Selbstopferung geleitet wird, das seiner Kaste eigen ist.

Zur Jahrtausendwende noch bildete der Widerstand der maoistischen Guerillas in Ostindien ein Hindernis für den Abbau von Bodenschätzen, wie die britische Zeitung The Guardian damals berichtete. Das hat sich geändert. Die Guerillas konnten den staatlichen Maßnahmen gegen sie nicht standhalten und die Kultur der Adivasi nicht den ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Shahs Innenansichten einer politischen Bewegung im Niedergang und einer sterbenden Kultur erinnern daran, wie die Wirtschaftsweise der Industrieländer den globalen Süden überrollt hat.

Obwohl Shah auf die problematischen Aspekte der naxalitischen Bewegung hinweist, ist unübersehbar, dass der Gegner ihrer Ausführungen die indische Regierung ist, deren Politik sie 2024 im New Statesman als faschistisch bezeichnete. Im selben Jahr prangerte sie mit ihrer Veröffentlichung „The Incarcerations“ („Die Einkerkerungen“) die Inhaftierung indischer Oppositioneller unter fadenscheinigen Vorwänden an. Regelmäßig publiziert sie in britischen Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen.

Wissenschaft zu betreiben, bedeutet für Alpa Shah auch, Aktivistin zu sein. „Nachtmarsch“ ist ein außerordentlich kluges und politisch wie menschlich engagiertes Buch, das der Autorin seit seinem Erscheinen in Großbritannien 2018 zahlreiche Preise und eine Berufung an die Universität Oxford eingebracht hat. Etwas verspätet erscheint „Nachtmarsch“ nun in Deutschland und findet hoffentlich auch hier eine interessierte Leserschaft.