EU-Parlament: In der europäischen Brandmauer klafft ein Loch


Am lautesten jubelte die AfD über ihren Stimmerfolg im Europäischen Parlament. „Mit dem Fall der Brandmauer ist es einer Mehrheit auf der rechten Seite gelungen, die schädliche Green-Deal-Gesetzgebung abzuschwächen und dringend benötigte Entlastungen für unsere Unternehmen zu erreichen“, hieß es am Donnerstag in einer Mitteilung der Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESN), die von der AfD dominiert wird. Das sei ein „historischer Tag“ für die Demokratie. Abgeordnete verbreiteten in sozialen Netzwerken Bilder und Videos, mit denen sie das Ergebnis feierten.

Erstmals hatte eine rechte Mehrheit unter Einschluss der Christdemokraten von der Europäischen Volkspartei (EVP), der rechtsnationalen EKR, der rechtspopulistischen Patrioten für Europa (PfE) und eben des ESN einen zentralen Gesetzesakt gemeinsam im EU-Parlament durchgedrückt.

Auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums war die Empörung darüber umso größer. Die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen Terry Reintke sprach von einem „beschissenen Zeichen für Europa“ und klagte vor allem den Chef der EVP-Fraktion an: „Manfred Weber hat sich für den Tabubruch und den Schulterschluss mit den Rechtsextremen entschieden.“ Noch eine Kategorie tiefer griff René Repasi, der die SPD-Delegation leitet und den „Rechtspakt“ mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten am Ende der Weimarer Republik verglich.

Abweichler bei Sozialdemokraten und Liberalen

In diesen aufgeregten Reaktionen wurden allerdings Aspekte unterschlagen, ohne die sich die Abstimmung nicht angemessen einordnen lässt. So wäre eine Mehrheit auch ohne das ESN zustande gekommen, was insbesondere Weber wichtig war, der die Abgrenzung der Union in Deutschland von der AfD im Blick haben muss und sich in den vorigen Wochen mit Friedrich Merz beraten hatte. Der legte dem CSU-Mann keine Steine in den Weg, weil er die Entschlackung insbesondere der Lieferkettenrichtlinie zur politischen Priorität erklärt hatte.

Eine zweite Nuance betrifft Sozialdemokraten und Liberale. Beide Parteien stimmten zwar mehrheitlich gegen den Schlussantrag, mit 109 und 46 Stimmen, hatten aber eine beträchtliche Zahl von Abweichlern in ihren Reihen. Bei den Sozialdemokraten waren das 15 Abgeordnete, und zwar aus Ländern, in denen die Sozialdemokraten die Regierung führen (Dänemark, Malta) oder daran beteiligt sind (Rumänien). Bei den Liberalen waren es sogar 17 Abgeordnete, die dem rechtsliberalen Spek­trum angehören, aus den Niederlanden, Dänemark, Österreich, Belgien und aus Deutschland von FDP und Freien Wählern. Das erklärt, warum die beiden Vorsitzenden dieser Fraktionen nach der Abstimmung auf Tauchstation gingen statt sich empört zu äußern.

Auffallend war das insbesondere im Fall von Iratxe García Pérez, die der S&D-Fraktion vorsteht. Ursprünglich hatten die Parteien der „Plattform“ von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen, welche die Kommission trägt, einen Kompromiss vereinbart, der schärfer ausfiel als das Ergebnis von Donnerstag.

Lohnt es sich für Linke, Kompromisse aufzukündigen?

Der war jedoch vor drei Wochen im Plenum knapp durchgefallen – in geheimer Abstimmung, doch unter dem vernehmbaren Jubel von rund dreißig Sozialdemokraten. Das war auch ein Affront gegen die spanische Vorsitzende, die ohnehin intern unter Druck steht. Anschließend verlangten die Sozialdemokraten weitere Zugeständnisse, während die Christdemokraten den Bruch der Absprache nicht auch noch belohnen wollten.

So kam es zu der Situation am Donnerstag, als die Abgeordneten über 400 Änderungsanträge zu einem Vorschlag der EU-Kommission abstimmten, die nicht untereinander abgestimmt waren. Die Anträge der EVP beruhten auf einem Vorschlag, den der zuständige Berichterstatter Jörgen Warborn schon Mitte Oktober präsentiert hatte – und dem seinerzeit die Verhandlungsführer aller rechten Fraktionen zustimmten. Der schwedische Christdemokrat nutzte das, um die Plattform-Partner unter Druck zu setzen. Was zunächst auch gelang: Schließlich verständigten sie sich auf jenen Kompromiss, der dann jedoch im Plenum durchfiel.

Diese Vorgeschichte ist aus zwei Gründen relevant. Erstens war das Votum von Donnerstag nur der Plan B – die EVP hatte sich um eine Mehrheit in der Mitte bemüht. Zweitens setzte sie dabei ihre Parteiposition durch, ohne Rechtsaußen inhaltliche Zugeständnisse zu machen. Diese Position wiederum liegt nahe an der Verhandlungsposition des Rates zu den beiden Richtlinien. Dass hier ein Konsens von Demokraten gesprengt worden wäre, lässt sich nicht belegen. Die Abstimmung war auch nicht das Ende der Plattform: Deren Mehrheit stimmte am selben Tag für das Klimaziel 2040, das von den drei rechten Fraktionen einhellig abgelehnt wurde.

Dass sich Mehrheiten auf der Rechten bilden, ist nicht neu. Vorher war das schon bei einzelnen Entschließungen, Änderungsanträgen und, unter chaotischen Umständen, bei einem Gesetzgebungsverfahren zu einer Entwaldungsverordnung der Fall gewesen. Diesmal geschah es das erste Mal mit Ansage. Damit weist die Brandmauer, die in Brüssel „cordon sanitaire“ heißt, nun ein besonders großes Loch auf.

Künftig kommt es darauf an, was die Parteien aus der Episode lernen. Lohnt es sich wirklich für linke Abgeordnete, Plattform-Kompromisse aufzukündigen? Und wie weit kann die EVP gehen, ohne ihre Konkurrenten von rechts so groß zu machen, dass sie selbst unter die Räder kommt?