Wie Akin Gürlek die türkische Justiz missbraucht und Erdogan ihn dafür belohnt

Als Erdoğan den 42 Jahre alten Gürlek in Istanbul einsetzte, war jedem klar, dass ein Gewitter heraufzog. Bei den Kommunalwahlen sechs Monate vor dieser Ernennung hatte Erdoğan seine bis dahin ärgste Wahlniederlage erlitten, erstmals hatte die Opposition seine Partei auf den zweiten Platz verwiesen. In seiner früheren Tätigkeit als Strafrichter hatte Gürlek in Istanbul die Opposition, Erdoğan-kritische Medien und Vertreter der Zivilgesellschaft mit Strafen überzogen. Die Belohnung dafür folgte auf dem Fuße. Er wurde bald zum Stellvertreter des Justizministers in Ankara befördert. Dass ein Mann, der als Richter gegen Dissidenten zu Felde gezogen war, Anfang Oktober 2024 an die Spitze der Justiz in Istanbul gelangte, ließ eine größere Operation befürchten.

Bülent Mumay
Bülent Mumayprivat

Bald erfuhren wir, worum es ging. Wenige Wochen bevor Gürlek ins Amt kam, war in der Kommunalverwaltung eines von der oppositionellen CHP regierten Istanbuler Bezirks eine Razzia durchgeführt worden. Das war Erdoğans durch die Justiz geführter erster Coup gegen die Partei. Mit Gürlek an der Spitze nahmen die Operationen der Istanbuler Justiz dann rasant Fahrt auf. Den heftigsten Schlag versetzte die Justiz der Opposition am 19. März dieses Jahres. Ekrem Imamoğlu, Oberbürgermeister und CHP-Präsidentschaftskandidat, wurde frühmorgens zu Hause festgenommen, der Vorwurf lautete Korruption. Er und etliche seiner Mitarbeiter sitzen mittlerweile seit über sechs Monaten in Untersuchungshaft. Gürleks Attacken blieben nicht auf Istanbul beschränkt. Ohne die Befugnis dafür zu haben, ermittelte er auch gegen Bürger anderer Orte wegen vorgeblicher Straftaten und ließ gewählte CHP-Bür­germeister verhaften.

Ein zweites Gehalt vom Präsidenten

Gürleks Operationen konnten die Öffentlichkeit allerdings kaum überzeugen. Da er keinerlei konkrete Beweise vorlegt, sind 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung, der Coup gegen die Opposition sei politisch motiviert. Erdoğan aber ist mit Gürleks Leistung zufrieden. Für ihn bedeutet es einen Triumph, einen Konkurrenten, der ihn höchstwahrscheinlich besiegt hätte, im Gefängnis festzusetzen. Deshalb bemühte Erdoğan sich, Gürleks Motivation noch zu steigern. Normalerweise haben Oberstaatsanwälte eine bescheidene Dienstwohnung. Gürlek aber steht eine Villa mit Bosporusblick aus dem Staatsbesitz zur Verfügung. Sie wurde vor seinem Einzug für rund 60 Millionen Lira (1,3 Millionen Euro) renoviert. Gürleks Ehefrau, ebenfalls Richterin, erhielt einen Ruf in den Vorstand des Rats für Kapitalmarktwesen, was weder ihrer Qualifikation noch ihrem Karrierestatus entspricht. Nun führt sie die Aufsicht über die Finanzmärkte und die Börse der Türkei.

Diese „Gefallen“, die Erdoğan Familie Gürlek erwies, bewegen sich nicht außerhalb des gesetzlichen Rahmens, auch wenn es Kritik gibt, weil sie nicht den Gepflogenheiten entsprechen. Vor ein paar Tagen legte der CHP-Vorsitzende Özgür Özel nun aber Dokumente vor, die auf einen waschechten Skandal hindeuten. Offenbar hat Erdoğan dem Oberstaatsanwalt ein zweites Gehalt zugeschustert. Und das auch noch von einem Staatsunternehmen im Ausland. Einen Monat nach seiner Berufung zum Generalstaatsanwalt war Gürlek auch in den Vorstand der Tochtergesellschaft des staatlichen türkischen Bergbau- und Chemieunternehmens Eti Maden in Luxemburg berufen worden. Die türkischen Gesetze verbieten es Richtern und Staatsanwälten, neben ihren Dienstgehältern weitere Einkommen zu beziehen. Nicht nur hier liegt das Problem, Eti Maden untersteht dem von Erdoğan verwalteten türkischen Vermögensfonds. Der Chef der Exekutive zahlte einem Mitglied der Justiz, die laut Verfassung unabhängig zu sein hat, also ein zweites Gehalt – dem Mann, der seine Widersacher einsperrt.

Er folgt Erdoğan bis in die Formulierungen

Den Skandal um das illegale zweite Gehalt belegen offizielle Unterlagen der luxemburgischen Handelskammer. Was sollte Ihrer Meinung nach folgen? Ermittlungen des Justizministeriums gegen Gürlek, dessen vorläufige Suspendierung oder zumindest die Erklärung, Untersuchungen seien eingeleitet, nicht wahr? Nichts davon geschah. Im Gegenteil. Am Tag, als der Skandal ans Licht kam, wurden Ekrem Imamoğlus Sohn und sein 85 Jahre alter Vater zur Vernehmung vorgeladen. Imamoğlus Sohn wurde vernommen, weil er Geld von seiner Mutter und seinem Großvater erhielt und damit ein Geschäft aufbaute. Der Oberstaatsanwalt hingegen, der gegen die Familie Imamoğlu zu Felde zieht, äußerte sich mit keinem Wort zu seinem von Erdoğan bezogenen zweiten Gehalt, obwohl es sich um einen Straftatbestand handelt. Stattdessen war Gürlek damit beschäftigt, die Firma von Imamoğlus Vater zu konfiszieren und gar seine Rente aussetzen zu lassen. Die Untaten der Palastjustiz treffen auch Imamoğlus Ehefrau Dilek. Sie wollte nach Deutschland reisen, um in Berlin eine Auszeichnung für ihren Mann entgegenzunehmen, doch dann wurde ihr der Pass entzogen. Am Tag darauf nahm die Justiz fünf Journalisten fest, vorgeworfen wird ihnen Unterstützung der „kriminellen Vereinigung Imamoğlus“.





Bild: Emir Özmen, Bearbeitung F.A.Z.



Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in seinem „Brief aus Istanbul“ über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben.

Eine Auswahl von Beiträgen unserer Kolumne ist bei Frankfurter Allgemeine Buch erschienen.

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Der Generalstaatsanwalt, mit einer Villa am Bosporus und einem zusätzlichen Gehalt belohnt, zeigt sich für Erdoğans Geschenke also erkenntlich. Ganz nach Erdoğans Wunsch bereitete er die Anklageschrift vor, die Ekrem İmamoğlu eine lebenslange Haftstrafe – oder sogar 24 Jahrhunderte! – einbringen soll: 2352 Jahre Haft wegen der angeblichen Beteiligung an 142 Korruptionsdelikten. Die Anklageschrift, in der İmamoğlu als Anführer einer kriminellen Vereinigung bezeichnet wird, liest sich eher wie ein politischer Text als wie eine juristische Anklageschrift. Tatsächlich taucht die Metapher „die Arme des Oktopus“, die Erdoğan verwendete, als er behauptete, die Opposition habe ein Korruptionsnetzwerk aufgebaut, viermal in der Anklageschrift auf.

Ein Lehrmeister für autokratische Staatschefs weltweit

Überrascht es Sie da noch, dass dieses Land auf dem Rechtsstaatlichkeitsindex auf Platz 118 von 143 Staaten rangiert? Das NATO- und Europaratsmitglied Türkei blickt auf eine über hundertjährige Geschichte der Demokratie zurück, wenn auch mit Aufs und Abs. Doch in Sachen Rechtsstaatlichkeit liegt sie noch hinter China und Russland. Nicht von ungefähr sprach Erdoğan, der Architekt dieser Szenerie, kürzlich bei Reden von „Justizstaat“ statt von „Rechtsstaat“. Denn das Schicksal der Türkei bestimmt nicht länger die Rechtsstaatlichkeit, sondern die von Erdoğan gestaltete Justiz.

Auch das Alltags- und Gesellschaftsleben ist harschen Attacken der Justiz ausgesetzt. Ein Wissenschaftler, der sich beschwerte, dass für Erdoğans Konvoi Straßen gesperrt wurden, muss wegen Präsidentenbeleidigung ins Gefängnis. Vierzehnjährige Schüler, die ein an ihrer Schule angebrachtes gigantisches Erdoğan-Poster entfernten, wurden bis spät nachts vernommen und von der Schule verwiesen. Junge Leute, die an Halloween ein Kreuz aus Bierkästen formten und fotografierten und in Imam-Roben beim Kostümfest auftauchten, wurden festgenommen. Bei alldem geht es darum, die Gesellschaft gleichzuschalten und Erdoğan absolute Herrschaft zu sichern.

Wer meine Briefe aus Istanbul kennt, wird sich erinnern, dass ich ab und an Vergleiche zwischen Erdoğan und seinem engen Freund Putin gezogen und darauf verwiesen habe, dass die beiden Machthaber sich bezüglich Gesetzen zur Errichtung ihrer repressiven Regime gegenseitig inspiriert haben. Diese Zeit scheint vorüber zu sein. Mit seinen Maßnahmen ist Erdoğan zum Lehrmeister für autokratische Staatschefs weltweit geworden. Sogar für US-Präsident Trump. Vor zwei Wochen trug ein Leitartikel der „New York Times“ den Titel: „Verlieren wir unsere Demokratie?“ Unser amerikanischer Kollege sorgte sich um zwölf von Trumps Maßnahmen, darunter folgende: Unterdrückung der Opposition und der Meinungsfreiheit, Vorgehen gegen politische Gegner mithilfe von Polizei und Justiz, Informationen und Medien kontrollieren, die unabhängige Presse zum Schweigen bringen, staatliche Macht zur persönlichen und familiären Bereicherung nutzen, Manipulation von Wahlregeln und Gesetzen zwecks Machterhalt. Bei der Lektüre des Artikels fiel mir auf, dass Erdoğan die aufgeführten Schritte Trumps längst der Reihe nach gesetzt hat. Die Demokratie, deren Verlust die „New York Times“ fürchtet, ist bei uns bereits Geschichte. Dass Trump den neuen New Yorker Bürgermeister Zohran Mamdani verhaften lässt, wie Erdoğan es hierzulande mit Imamoğlu tat, steht indes nicht zu befürchten. Denn Mamdani kann nicht für die Präsidentschaft kandidieren, weil er nicht in den USA geboren wurde. Würde er das Präsidentenamt anstreben wie Imamoğlu bei uns, könnte die Geschichte ebenso enden wie in der Türkei.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.