Jannik Sinner bei den ATP Finals 2025: Ins Himmelblau mischt sich ein dunkler Fleck – Sport

In Turin war der erste Aufschlag noch gar nicht erfolgt, da war Jannik Sinner schon wieder überall. Die finale Woche des Tennis-Jahreskalenders beginnt für den Italiener immer schon in der Woche davor, wenn er vorzeitig in sein Heimatland zurückkehrt. Sinner spielte eine Runde Golf und versenkte auf dem letzten Grün einen langen Putt, was manche Sportzeitungen schon zu Eilmeldungen anstiftete. Sinner versammelte halb Turin im Laden eines seiner vielen Sponsoren, zu einer seiner stets launigen Redeveranstaltungen. Und als er am Montagabend mit dem Tennisspielen begann, stand der Tenor dieser Woche somit bereits fest: Der Erfolg der ATP Finals in Turin, des Finalturniers der besten acht Spieler der Jahresrangliste im Tennis, besteht zu wesentlichen Teilen aus der Begeisterung, die Signore Jannik an diesem Ort auszulösen vermag.

Zur Wahrheit über die ATP Finals nämlich gehört auch die Tatsache, dass es sich um ein sehr eigentümliches Tennisturnier handelt, insbesondere aus der Ferne betrachtet. Das Gruppenformat nimmt dem Sport sein Siegen-oder-fliegen-Element, im November ist der Mehrheit der Teilnehmer stets eine gewisse Erschöpfung anzumerken und überhaupt: Die besten acht Spieler der Rangliste bestreiten im Laufe des Jahres ohnehin die meisten Spiele gegeneinander. Ein wenig ertappt man sich unter dem himmelblauen Licht in der Inalpi-Arena daher dabei, eine Wiederholungsschleife zu sehen. Was auch daran liegt, dass sich das Bild im Fernsehen kaum von denen aus den Vorwochen-Turnieren in Paris oder Athen unterscheidet. Eine Mitschuld an dem spürbaren Hauch von Monotonie trägt allerdings auch Jannik Sinner.

„Ich muss unberechenbarer werden“, sagte Sinner nach dem verlorenen US-Finale

Beachtlich vorhersehbar sind Tennismatches des 24-Jährigen in Turin geworden, er verliert sie nämlich einfach nicht. Seit dem Finale im Jahr 2023 gegen Novak Djokovic ist Sinner nicht nur in Turin ungeschlagen, sondern überhaupt in Tennishallen: Sein 27. Sieg in Serie unter einem Dach seit jenem Finale vor zwei Jahren war das 7:5, 6:1 gegen Felix Auger-Aliassime am Montagabend. Eine weitere einseitige Partie war Sinners Auftakt letztlich, obwohl dem Kanadier auf der anderen Seite im ersten Durchgang das Allermeiste gelang.

Für Auger-Aliassime lag Sinners Stärke in der Kombination aus einem herausragenden Aufschlag und der Fähigkeit, auf herausragende Aufschläge des Gegners zu antworten. „Ich habe zum Beispiel nie gegen Roger (Federer, d. Red.) zu seiner Hochzeit gespielt“, sagte der Kanadier, aber ansonsten habe Sinner ohne Einschränkung „die beste Kombination“, die er jemals gesehen habe.

Und er wird noch besser. Eine Aussage von Sinner nach dem verlorenen US-Open-Finale im September hallt noch nach: „Vielleicht verliere ich in Zukunft ein paar Matches, wenn ich Neues ausprobiere, aber ich muss unberechenbarer werden“, sagte er damals nach der Niederlage gegen den Spanier Carlos Alcaraz. Seitdem hat er bis auf eine verletzungsbedingte Aufgabe in Shanghai kein Match mehr verloren, seinen Kontrahenten Alcaraz bei einem Einladungsturnier in Riad geschlagen – und ist trotzdem variabler geworden. Stopps, Volleys, Variationen, das sah man von Sinner auch beim Auftakt in Turin wieder vermehrt. Nur eben keine Niederlage.

Sinner fühlt sich in Turin wie zu Hause

Vielleicht ist tatsächlich einiges über die Komfortzone Turin zu erklären, bei einer Annäherung an die Frage, wie die beachtliche Herbstform des Italieners zustande kommt. Über einen Ort, an dem Sinner vor allem den Norditalienern noch näher ist als etwa in Rom. Das ganze Südtirolerisch, das in der Arena zu hören ist, ist dafür der beste Beleg. Sinner fühlt sich wohl in einer Stadt, die er bestens kennt seit seiner Jugendzeit in der Tennisschule in Bordighera, das nur knapp zwei Autostunden entfernt ist. Seine Freundin ist auch angereist, über seine Liebe wird ebenso ausführlich berichtet wie über Sinners Tennis. Es wäre die Version der Dinge, die sie in Italien am liebsten erzählen über ihren Tennisprinzen, den Werbekönig, dem sie Handyverträge, Kaffee, Pasta und Sonnencreme abkaufen, weil er so nett wie kein anderer von den Plakaten lächelt. Dem sie sogar verzeihen, dass er in der kommenden Woche nicht beim Davis Cup antreten wird. Womöglich aber ist es nicht die ganze Wahrheit.

Natürlich konnte sich Sinner in der zuletzt mit Verve geführten Debatte um die Überbelastung zurückhalten und natürlich ist er im November 2025 auch deshalb fitter als viele Konkurrenten, weil er drei Monate lang nicht mitspielte. Die Dopingsperre aus dem Frühjahr zwischen den Australian Open und den French Open, sie ist in Turin längst kein Thema mehr. Wohl aber im Rest der Tenniswelt: „Das Dopingproblem wird ihn verfolgen, genau wie die Covid-Pandemie mich“, sagte am Montag Novak Djokovic in einem Fernsehinterview über Sinner: „wie eine dunkle Wolke“. Der Vergleich des Serben war wohlgewählt: Djokovics Impfverweigerung aus der Covid-Zeit, deretwegen er nicht nach Australien einreisen durfte, wird stets ein Kapitel seiner Laufbahn bleiben. Und so ist es auch bei Sinner und der Causa Clostebol, die nicht wegen der Schwere des Dopingvergehens aufsehenerregend ist, sondern wegen der unseriösen Art, wie die Strafe verhängt wurde.

In der Heimat aber spielt das nur eine untergeordnete Rolle, in der Komfortzone Turin. Bei einem Turnier, das nicht vom Spektakel lebt, sondern von der Atmosphäre, die ein begeistertes Publikum erschafft, das seinen Helden verehrt, in Lorenzo Musetti dieses Jahr sogar noch einen zweiten. Italienischer denn je ist das Jahresfinale im Tennis daher, es dürfte sich in Zukunft auch kaum etwas ändern: Bis 2030 läuft der Vertrag über die Austragung in Norditalien, ein Umzug nach Mailand ist im Gespräch, ausverkauft dürfte die dortige Halle auch sein. Zumindest, so lange Sinner dabei ist.