Preis des Historischen Kollegs für Gudrun Krämer: Umstritten, inschallah

Seit 1983 wird in München alle drei Jahre der Preis des Historischen Kollegs vergeben. Der Auslober verbindet mit ihm den Anspruch eines Deutschen Historikerpreises, der früher durch die Anwesenheit des Bundespräsidenten bei den Verleihungszeremonien beglaubigt wurde – eine Tradition, die Joachim Gauck abreißen ließ. Das Historische Kolleg, dessen Grundausstattung in Gestalt einer Villa in der Kaulbachstraße am Englischen Garten der Freistaat Bayern bereitstellt, lädt Forscher ein, in München ein Jahr lang am Abschluss eines größeren Buches zu arbeiten. Für besonders große Bücher gibt es den Preis, dessen Preisgeld von 30.000 Euro diesmal der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft bewilligte.

Geht man die Liste der fünfzehn Preisträger von Alfred Heuß über Johannes Fried bis zu Jan Assmann durch, fällt ins Auge, dass erst 2022 ein Historiker des Nationalsozialismus ausgezeichnet wurde, Michael Wildt. Ein gutes Auge bewies die Jury in jüngerer Zeit bei der Identifikation prägekräftiger methodischer Tendenzen wie der Kulturgeschichte politischer Institutionen (Barbara Stollberg-Rilinger, 2013) und der Renaissance der Geopolitik (Karl Schlögel, 2016). In dieser Vergaberunde wurde offenbar nach Spezialisten für außereuropäische Geschichte und insbesondere das Nachleben des Kolonialismus Ausschau gehalten. In der engeren Wahl war dem Vernehmen nach der Berliner Historiker Sebastian Conrad, dessen Buch über Nofretete allerdings eher populärwissenschaftlichen Charakter hat.

Die Schlossallee in der Buchlandschaft

Die Wahl fiel auf eine Berliner Universitätskollegin Conrads, die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer, geboren 1953 und damit ein Jahr älter als Wildt. Mindestens dreizehn Jahre lang arbeitete sie an der Biographie von Hassan al-Banna (1906 bis 1949), dem Gründer der Muslimbruderschaft. Unter dem Titel „Der Architekt des Islamismus“ ist das Buch 2022 in der Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung bei C. H. Beck erschienen. Diese Reihe ist in der geschichtswissenschaftlichen Publikationslandschaft so etwas wie die Kaulbachstraße oder Schlossallee. Hier erscheinen gediegenste Werke, deren repräsentativen Umfang der Beck-Verlag nicht aus seiner Bestsellerproduktion quersubventionieren muss. Neben der „Deutschen Geschichte 1800-1866“ (Thomas Nipperdey, Preisträger 1992) oder der „Geschichte der Staatsgewalt“ (Wolfgang Reinhard, 2001) aus demselben Verlag nimmt sich eine al-Banna-Biographie ziemlich speziell aus, aber vielleicht auch nur für einen eurozentrisch rückständigen Blick. Der Titel von Krämers Buch weist den Ägypter als welthistorische Figur aus.

Das Historische Kolleg hebt in seiner Würdigung Gudrun Krämers hervor, dass sie sich auch als öffentliche Intellektuelle exponiert hat: „Gudrun Krämers öffentliche Interventionen bereichern die Diskussionen in Deutschland, gerade auch weil sie Debatten ausgelöst haben.“

Als Sohn eines Theologieprofessors in der Kunst der freien Wechselrede über Gott versiert: Johan Schloemann spricht mit Gudrun Krämer.
Als Sohn eines Theologieprofessors in der Kunst der freien Wechselrede über Gott versiert: Johan Schloemann spricht mit Gudrun Krämer.Picture Alliance

Früher war der Höhepunkt der Preisverleihungen die Rede des Preisträgers. Am Montag erzählte ein bekannter Politikhistoriker, dass ihn Barbara Stollberg-Rilingers Vortrag „Von der Schwierigkeit des Entscheidens“ dazu gebracht habe, auf ihrer Spur ins Feld der Verfahrensforschung abzubiegen. Auf eine solche potentiell richtungweisende Vorführung begrifflich konzentrierter Wissenschaft wird seit 2022 verzichtet. Der Journalist Johan Schloemann, Mitglied der Jury, stellte Gudrun Krämer Fragen wie bei einer Buchvorstellung. Nach einer halben Stunde näherte sich das Gespräch allmählich den Themen, die Zeitungslesern zum Isla­mismus einfallen, wobei die Stich­wörter „Fundamentalismus“ und ­„Ra­dikalisierung“ ausdrücklich als Schlagwörter eingeführt wurden.

Gerade in Deutschland in besonderer Weise

Die Preisträgerin beschwerte sich über die Unbildung der Öffentlichkeit, in der Radikalität ohne Kenntnis islamischer theologischer Diskussionen zugeschrieben werde. Um dieser Unwissenheit abzuhelfen, wählte Krämer an diesem Abend als Mittel nicht die direkte Aufklärung über die unbekannte Sache, sondern den religionsgeschichtlichen Vergleich. Die Radikalität der Muslimbrüder sei „durch Abgrenzung von Feinden“ zustande gekommen, „Abgrenzung auch gegenüber dem Zionismus“, worüber „wir gerade in Deutschland in besonderer Weise“ redeten, was fast so klang wie: aus moralischem Provinzialismus.

Als Vertreter von Staatsminister Markus Blume zitierte Ministerialdirigent Johannes Eberle das Wort des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, der 2010 zur Preisverleihung an Christopher Clark erschienen war: „Der Islam gehört auch zu Deutschland.“
Als Vertreter von Staatsminister Markus Blume zitierte Ministerialdirigent Johannes Eberle das Wort des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, der 2010 zur Preisverleihung an Christopher Clark erschienen war: „Der Islam gehört auch zu Deutschland.“Picture Alliance

Soll der von Krämer umrissene Antizionismus mit Antisemitismus nichts zu tun haben? Schloemann hakte nach: Wenn die Politisierung der Muslimbruder sich im Kampf in Palästina und gegen den Zionismus kristallisierte, welche Rolle spielte dabei die Religion? Krämers Antwort setzte bei der „Inneren Mission“ der Protestanten ein, um das Selbstbild der von al-Banna rekrutierten „Soldaten Gottes“ zu illustrieren, unter denen die Waffenhilfe für die Palästinenser „durchaus umstritten“ gewesen sei.

Schloemann brachte nicht genug Am­bi­guitätstoleranz auf, um diese Aus­kunft im Sinne der Ergebung ins Schicksal einer modernen Geschichtswissenschaft stehenzulassen, die über den Befund der Mehrdeutigkeit jeder Ideo­logie nicht hinauskommt. Er wiederholte die Gretchenfrage, angewandt auf die Hamas, die in dem von al-Banna errichteten Ideengebäude Hausrecht beansprucht: Welche Rolle spielt die Religion in der aktuellen Zuspitzung des Nahostkonflikts? Gudrun Krämer wich endgültig in die Komparatistik aus: Bei religiöser wie säkularer Rechtfertigung von Gewalt sei „in der jüdisch-israelischen Gesellschaft genau dieselbe Bandbreite festzustellen“. Für eine preisgekrönte Historikerin war das eine enttäuschend unspezifische Aussage. Es hätte ebenso wenig befriedigt, wenn ein Biograph Zeev Jabotinskys die Frage nach dem Gewaltpotential des Revisionismus mit dem Verweis auf die Gegenseite beantwortet hätte.