Louis Vuitton: Vom eleganten Damenschuh zu Sneaker

Die Mutter war Schuhmacherin, die Tochter wurde auch Schuhmacherin. Katjas Mutter fertigte noch Schuhe in Heimarbeit, während die Kinder im Haus umhersprangen, so wie viele Frauen hier, in der Gegend westlich von Venedig es damals machten. Das war vor einem halben Jahrhundert. Katja ist nicht viel älter. Die Mutter lernte das Kind früh an. Katja arbeitet heute an einem Pult in der Produktionsstätte von Louis Vuitton. Die Lippen hat sie an diesem Tag sauber umrandet, die Augen dunkel geschminkt, markante Hornbrille, Hochsteckfrisur mit einzelnen offenen Strähnen. Von den Ohren hängen große Kreolen herab, vom Hals ein dicker Herz-Anhänger. Selbst in brauner Schürze an der Werkbank wissen Italienerinnen, wie „bella figura“ geht.

Fragt man Katja, welche Schuhe die Mutter früher gefertigt hat, sagt sie: „tutti“. Aber selbst unter allen möglichen Modellen wird hier, im Nordosten Italiens, wo das Handwerk für elegante Damenschuhe zu Hause ist, damals wohl nicht dieser eine Schuh geläufig gewesen sein: der Sneaker. Anders als heute. Alle Welt trägt Sneaker. Deshalb werden sie selbst in Italien hergestellt, im Herzen der High-Heel-Region eine halbe Autostunde entfernt von Venedig. Bei Louis Vuitton.

Komfort ist das neue Schick

Vor Katja liegen also hellbraune Lederstücke wie Puzzleteile, die zusammengesetzt einmal einen LV Buttersoft Sneaker ergeben sollen. Katja nimmt sich Nadel und Faden und sticht durch das gepolsterte Leder. Sie sitzt in einer von vier Hallen auf dem Fabrikgelände von Louis Vuitton in Fiesso. In einer Halle arbeiten sie an formellen Herrenschuhen, in einer anderen an eleganten Damenschuhen. Zwei Hallen sind hingegen allein für die Sneaker-Produktion reserviert. „Das erwartet der Markt von uns“, sagt eine Mitarbeiterin, die an diesem Tag durch die Produktionsstätte führt und an Katjas Pult steht. Die Umrisse des Sneakers kann man schon erahnen, selbst in seinen Einzelteilen ist klar, dass aus dem butterweichen Leder wohl einmal ein recht bequemer Schuh entstehen wird. Pharrell Williams, Musiker und seit zwei Jahren Chefdesigner der Herrenkollektion von Louis Vuitton, hat ihn erdacht. Aber weil wohl kein Stück Mode so geschlechtsneutral ist wie der Sneaker, tragen Frauen auch dieses Modell: Ein Blick nach unten, die Louis-Vuitton-Mitarbeiterin, die hier herumführt, trägt ihn schon einmal ein, in Rosa, mit eng zur Schleife gebundenen Bändern.

Die Schuhmacherei lernte sie als Kind kennen, heute fertigt sie Sneaker: Katja an der Werkbank bei Louis Vuitton.
Die Schuhmacherei lernte sie als Kind kennen, heute fertigt sie Sneaker: Katja an der Werkbank bei Louis Vuitton.Jennifer Wiebking

Ein Blick nach draußen, im Innenhof der Produktionsstätte erinnern ein paar High-Heel-Skulpturen, wofür diese Region einmal stand. Über Jahrhunderte war das Schuhmacherhandwerk in der Republik Venedig ein wichtiger Wirtschaftszweig. Nachdem Napoleon Venedig auf seinem Italien-Feldzug 1797 erobert hatte, zog es viele Handwerker Richtung Westen, in die Region, die am Brenta-Fluss liegt, wo ein neues Kompetenzzentrum für Schuhe entstand. Daran erinnert ein großes Museum, nicht weit entfernt von der Louis-Vuitton-Fabrik. Rossimoda, ein Schuhhersteller, den es seit 1947 gibt, hat es gegründet und dekliniert in ihm auch die eigene Unternehmensgeschichte durch. Erst war da Luigi Rossi, 1956 stiegen die Söhne ein. Besonders eng arbeitete Rossimoda von 1963 an mit Yves Saint Laurent zusammen. 2003 übernahm der Luxuskonzern LVMH den Betrieb, der fortan für sämtliche Marken der Gruppe fertigen sollte, also auch für Louis Vuitton. Die handwerklichen Fähigkeiten von Rossimoda waren einfach zu gut.

Seit einigen Jahren landen nun immer mehr Sneaker-Exponate mit robusten Gummisohlen in diesem Museum. Was sagt das über uns aus? Wo der Schuh doch wie kein anderes Stück Mode Funktionalität und Ästhetik vereint und damit auch ein besonders guter Gradmesser für den Zustand einer Gesellschaft ist. Man sieht es mit Blick auf die Lotus-Schuhe, die in China über Jahrhunderte gängig waren und auch hier stehen. Es sind winzige Objekte, unvorstellbar, dass menschliche Füße in diese geschwungenen Kästchen von knapp acht Zentimeter Länge passen können. Frauen wurden damit von Beginn an eingezwängt.

Aber auch die Patito-Schuhe der Venezianerinnen waren nicht viel besser. Es handelte sich um Holz-Clogs mit zwei Stegen, auf denen die Trägerinnen balancierten. Das war praktisch, als die Straßen in Venedig noch nicht befestigt waren und man so nicht mit Matsch in Berührung kam. Aber die Schuhe machten Lärm, häufig brauchte es einen Helfer, um nicht hinzufallen. Brüder und Ehemänner waren also informiert, wo sich die Frauen gerade aufhielten.

Handwerk zwischen den Luxusmarken

Im Sneaker federt man hingegen durchs Leben, geradewegs den individuellen Bedürfnissen entgegen. Im Sneaker zwickt und drückt nichts. Der Sneaker erfüllt damit den Anspruch, den heute jeder an Mode stellt: Komfort. Zugleich ist, allein mit Blick auf die Sneaker, die Gleichstellung von Frauen und Männern schon vollzogen, beide tragen die gleichen Modelle. Auch so etwas kann ein Schuh offenbar vorwegnehmen. Da kann man sich auch an Yves Saint Laurent erinnern, der 1968 die ersten Stiefel für Frauen fertigen ließ.

Handarbeit ist Schuhmacherei aber noch immer, 250 Schritte sind es bei Louis Vuitton für jeden Schuh. Auch in den Fabriken in Südostasien braucht es Menschen für die Produktion von Adidas- und Nike-Sneakers. Sie sitzen in Portugal bei Veja oder eben hier in Italien, bei Louis Vuitton. Und wo Menschen gebraucht werden, da ist auch die Schwelle zum Machtmissbrauch zügig erreicht. So etwas geschieht nicht selten unabhängig davon, ob ein Produkt billig oder teuer war. Selbst Loro Piana, einer der größten Profiteure des Quiet-Luxury-Trends der vergangenen Jahre und ebenfalls Teil des LVMH-Konzerns, steht seit diesem Sommer für ein Jahr unter staatlicher Sonderverwaltung. Für die Arbeiter blieb nämlich trotz Preisen von 400 Euro auf Kappen und 2000 Euro auf Pullover zu wenig übrig.

Um die Schuhmode voranzubringen, braucht es aber neben handwerklichen Fähigkeiten auch die Ideen eines Designers. Im Schuhmuseum stehen absatzlose High-Heels, die Karl Lagerfeld einmal für Fendi erdacht hat. Der Winkel, das Material, die Höhe, alles musste stimmen. Bei Rossimoda bekam man es hin.

Ein untrennbares Produkt

Auch beim LV Buttersoft Sneaker wurde um die Proportionen gerungen, um die Menge an Polsterung und das passende Material. Ein Kollege von Katja, dunkles T-Shirt, dunkle Chino, markante dunkle Brille, steht jetzt vor einem Regal bestückt mit Dutzenden Holzleisten und erzählt von der Zusammenarbeit mit Pharrell Williams und der Suche. Wie auch ein Sneaker eine Geburt aus Leder ist, wie das Kalbsleder aber zu viele Falten schlug, wie sie so zu Kalbsbutterleder kamen, dicker und feiner zugleich, wie sie die Proportionen fünfmal verändern mussten und wie sie es dann irgendwann hatten: diese besonders weiche Fußumgebung von innen und den Look von außen.

Die Louis Vuitton Fabrik in Venedig: Aus diesen Halbfabrikaten werden später Sneaker.
Die Louis Vuitton Fabrik in Venedig: Aus diesen Halbfabrikaten werden später Sneaker.Jennifer Wiebking

Denn das ist ja die Herausforderung: Der Fuß soll weich gebettet sein, als liege er auf einem Kissen, und zugleich muss der Sneaker Stabilität bieten. Es ist schließlich kein eleganter Damenschuh. In der Fertigungshalle, dort, wo Katja sitzt und klebt und näht, zischt es. Hämmern, Feilen, Pressen. Am Ende steht jeder Sneaker in einer Vorrichtung, die an eine heiße Sandwichmaschine erinnert und Leder, Polsterung, Gummisohle, Nähte und Klebstoff zu einem untrennbaren Produkt vereint. Eines, das hält, beim Feiern, Arbeiten und Reisen.

Alle Welt trägt schließlich Sneaker, immer und überall. Frauen wie Männer. Nur diese eine Frau nicht. Während Katja Sneaker fertigt, trägt sie dunkle Pumps mit dicken, hohen Absätzen.