BSG-Präsidentin Fuchsloh: „Rentenalter muss irgendwann angehoben werden“

Frau Fuchsloch, die Regierung will das Bürgergeld reformieren. Künftig sollen deutlich härtere Sanktionen drohen. Werden Sie die Reform wieder einkassieren?

Im Moment wissen wir noch nicht, wie die Reform genau aussieht. Aber es ist wohl damit zu rechnen, dass verfassungsrechtliche Fragen gestellt werden. Letztlich hängt das aber von der konkreten Ausgestaltung der geplanten Regelungen ab. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2019 zu Sanktionen beim Arbeitslosengeld II ist aber durchaus ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der Sicherung des Existenzminimums einerseits und der Möglichkeit, Leistungen auch vollständig zu kürzen, andererseits angelegt.

Unter anderem soll Leuten, die dreimal Termine verpassen, künftig die Leistung ganz entzogen werden können, Totalverweigerern mitunter die Unterkunft nicht bezahlt werden.

Es gibt scheinbar ein großes Bedürfnis in der Gesellschaft, das Bürgergeld etwas strenger auszugestalten, weil es als zu großzügig empfunden wird. Änderungen sind deshalb auch bei der Karenzzeit für Vermögen und bei den Wohnkosten beabsichtigt.

Viele glauben, dass Bürgergeldempfänger sich auf Staatskosten einen Lenz machen. Entspricht das Ihrer Erfahrung nach der Realität?

Als Sozialrichterin habe ich sogenannte „Totalverweigerer“ praktisch nicht erlebt. Schätzungen gehen davon aus, dass sich nicht einmal ein Prozent aller Bürgergeldempfänger der Mitwirkung entziehen. Es gibt hingegen viele Menschen mit psychischen Problemen, mit Angststörungen, mit Handicaps, die aus diesen Gründen Probleme haben, Termine einzuhalten oder zu arbeiten.

Trotzdem gelten 3,8 Millionen der 5,2 Millionen Bürgergeld-Empfänger als erwerbsfähig.

Erwerbsfähig bedeutet, die Leute können drei Stunden am Tag arbeiten. Deren Leistungsvermögen passt oft nicht zu den Anforderungen des Arbeitsmarkts.

DSGVO Platzhalter

Mehr als 800.000 Menschen sind Aufstocker, sie können also arbeiten. Ließen sich zumindest diese Leute besser in den Arbeitsmarkt integrieren?

Sogenannte Aufstocker gibt es in vielen Varianten. Dazu gehören viele Frauen, die Teilzeit arbeiten; sie sind limitiert durch unzureichende Kinderbetreuung. Eine Alleinverdienerin mit großer Familie kann aber auch mit Vollzeitjob aufstockend Bürgergeld beziehen, wenn sie nur den Mindestlohn verdient. Es ist sicherlich auch ein richtiges Ziel der Bundesregierung, nun mehr gegen die Schwarzarbeit zu unternehmen.

Braucht es härtere Strafen?

Das ist nicht mein Thema als Sozialrichterin. Ich wünsche mir, dass über die sozialen Sicherungssysteme insgesamt besser gesprochen wird und dass nicht der Eindruck erweckt wird, sie seien marode, überzogen oder unfinanzierbar. Jüngere Menschen sind unsicher, ob sie noch eine Rente erhalten, die ihren Lebensunterhalt sichert, ob später noch eine Operation bezahlt wird. Diese Unsicherheit erschüttert mich. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass man in einigen Bereichen die sozialen Sicherungssysteme reformieren muss, aber wir laufen nicht in eine Katastrophe. Diese Hysterie ist überzogen.

Bei gewissen Einkommensschwellen lohnt sich Mehrarbeit kaum, weil dann staatliche Leistungen wegfallen.

Das ist keine realistische Einschätzung dazu, wie sich Menschen bezogen auf Arbeit verhalten. Das Bürgergeld ist ein in sich geschlossenes, stimmiges System. Zugleich gibt es mit Kinderzuschlag und Wohngeld vorgelagerte Leistungen. Diese Systeme sind nicht optimal aufeinander abgestimmt, das ist wahr. Generell die Hinzuverdienstregeln zu lockern, wie teilweise vorgeschlagen wird, halte ich aber nicht für sinnvoll. Das würde bedeuten, dass bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein ein Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen entsteht.

Das Ifo-Institut hat ausgerechnet, dass es mehr als 500 Sozialleistungen gibt. Haben Sie noch den Überblick?

Ad hoc kann ich Ihnen alle Leistungen auch nicht aufzählen. Zugleich ist es nicht trivial, Leistungen und Systeme zu vereinheitlichen. Im Koalitionsvertrag steht etwa, dass Wohngeld und Kinderzuschlag zusammengeführt werden sollen. Ein sinnvolles Ziel der Vereinfachung für die Bürger. Für die eine Leistung ist jedoch der Bund, für die andere sind die Kommunen zuständig. Da stellen sich bereits verfassungsrechtliche Fragen, zudem gibt es unterschiedliche IT-Systeme.

Das Bundessozialgericht in Kassel
Das Bundessozialgericht in KasselFrank Röth

Wo würden Sie ansetzen, um das System zu vereinfachen?

Wichtig ist der Unterschied zwischen Ansprüchen aus der Sozialversicherung, für die man Beiträge zahlt, und den steuerfinanzierten Leistungen. Eine gewisse Komplexität ist also unvermeidbar. Bei den steuerfinanzierten Leistungen sollten die Regelungen zum Bürgergeld – also die künftige Grundsicherung – und der Sozialhilfe für nicht erwerbsfähige Menschen vereinheitlicht werden. Außerdem wünsche ich mir, dass beim Bund ein Ressort für das gesamte Sozialrecht zuständig ist, um Reibungsverluste zu vermeiden. Derzeit ist zum Beispiel für das Wohngeld das Bauministerium und für den Kinderzuschlag das Familienministerium zuständig und nicht das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, obwohl es immer nur um steuerfinanzierte Sozialleistungen geht.

Wenn sie Geld an den Staat zahlen, haben es die Bürger stets mit dem Finanzamt zu tun. Warum geht es umgekehrt nicht auch so einfach?

Bei steuerfinanzierten Leistungen wäre ein solches Modell vielleicht denkbar, für die Sozialversicherung geht das nicht, schon wegen der Selbstverwaltung. Wir haben ein System mit vielen Komponenten. Nehmen Sie zum Beispiel das Bafög: Dieses dient der Bildungsförderung, nicht der Existenzsicherung. Deshalb können Sie diese Leistung nicht einfach mit dem Bürgergeld zusammenlegen. Ansonsten geht die Politik eher einen anderen Weg. Werden jetzt die Geflüchteten aus der ­Ukraine dem Asylbewerberleistungsgesetz zugeordnet, werden statt der Jobcenter künftig zwei Behörden zuständig sein. Die Kommunen zahlen die Leistungen, und die Bundesagentur für Arbeit organisiert die Jobvermittlung.

Heute muss man für jede Behörde einzeln Formulare ausfüllen, und für jede Sozialleistung berechnet sich das Einkommen wieder anders. Daran lässt sich also gar nichts ändern?

Doch, aber das geht nicht so schnell. Der Einkommensbegriff ist beim Bürgergeld aus gutem Grund strenger als etwa beim Elterngeld. Reformen sollten hier gut überlegt sein. Möglich wäre jedoch ein modularer Einkommensbegriff, der sich auf vorhandene Daten stützt und durch den das Einkommen schnell berechnet werden kann. Das Allerwichtigste dafür ist aber ein gemeinsames IT-System, damit die Behörden die Daten effizient untereinander austauschen können. Die Digitalisierung erfordert Standardlösungen. Das gilt übrigens auch für Gerichtsakten, die wir hier mehr oder weniger gut lesen können.

Kommen wir zur Rente: Wie ungerecht ist das System für die junge Generation?

Mich stört etwas der Unterton Ihrer Frage, der das Rentensystem so negativ konnotiert. Im Grundsatz ist das Umlageverfahren ein solides und bewährtes Prinzip. Natürlich stellt uns die demographische Veränderung vor Herausforderungen. Auch bin ich überzeugt, dass das Rentenalter irgendwann auf über 67 Jahre angehoben werden muss. Ich gehe davon aus, dass diese Entwicklung angesichts steigender Lebenserwartung weitergehen wird. Der Status quo ist im Koalitionsvertrag nur bis 2031 festgeschrieben.

Und danach wird der Anstieg im selben Rhythmus weitergehen?

Wie genau, wird von mehreren Faktoren abhängen, von der Zuwanderung etwa oder von der Wertschöpfung. Aber man wird auch über andere Anpassungsfaktoren reden müssen. Man muss zum Beispiel darüber nachdenken, ob die Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt werden und ein Inflationsausgleich genügt. Das sind alles Elemente, über die man ohne Schaum vor dem Mund sachlich reden kann und muss. Und nicht mit einem Generationen-Bashing nach dem Motto: Die Boomer nehmen uns alles weg oder die Jungen wollen nicht so viel arbeiten. Ich habe drei Kinder und drei Enkelkinder. Ich möchte, dass es uns allen gut geht und alle auch weiterhin auf die Sozialversicherung vertrauen können.

Warum diskutieren wir auf einmal an allen Ecken über Gerechtigkeit?

Für mich als Richterin ist Gerechtigkeit ein großes Wort. Es gibt den bösen Satz der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley: Die Leute haben Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen. Wir leben in einer Zeit, in der viele Gründe für Unsicherheit zusammenkommen: die Corona-Pandemie, die Weltpolitik, die Klimakrise. Hinzu kommt der Strukturwandel, etwa durch die digitalen Veränderungen. Die Menschen können nicht mehr darauf vertrauen, lebenslang das zu machen, wofür sie einmal ausgebildet wurden. In so einer Lage wirft man eher die Frage auf, ob es anderen eigentlich besser geht und ob das fair ist.

Sie finden, die Politik lässt sich von der Kritik am Sozialstaat zu sehr treiben?

Es ist nicht meine Aufgabe als Präsidentin des Bundessozialgerichts, politisches Handeln zu bewerten. In Bezug auf die Kommission, die Reformvorschläge für den Sozialstaat machen soll, kann ich aber sagen: Es ist eine überhöhte Erwartung, dass jetzt in sehr kurzer Zeit durch ein vielfältig zusammengesetztes Gremium ohne klare Entscheidungsstrukturen der ganz große Reformentwurf zustande kommen soll. Das ist in dieser Form nicht zu schaffen. Aber die Kommission kann einen Prozess anstoßen, der in kleinen Schritten etwas bringen kann. Der Sozialstaat ist immer reformbedürftig, und er ist reformierbar.

Die Enttäuschung über künftige Reformen ist schon programmiert?

Es gibt im Diskurs eine Beschleunigungsspirale: Jemand hat eine Idee, was man ändern sollte, und das muss dann sofort umgesetzt werden. In der Rente reden wir zudem über Generationen, die über lange Zeiträume ihre Anwartschaften angesammelt haben. Das kann man nicht mit einem Schnipp ganz anders machen. So zeigt sich auch bei den aktuellen Änderungen der Mütterrente, dass rückwirkende Eingriffe in Rentenverläufe schwierig sind: Abgeschlossene Versicherungsverläufe in zehn Millionen Fällen müssen völlig neu geprüft werden, für einen halben Beitragspunkt. Da entstehen allein 50 Millionen Euro an Verwaltungskosten, zusätzlich zu den fünf Milliarden pro Jahr für die Mütterrente selbst.

Welche Reform wünschen Sie sich am dringendsten?

Der Soziologe Niklas Luhmann hat sinngemäß gesagt: Komplexität ist kein Vernunftziel der Evolution, aber ein mit ihr eintretendes Nebenprodukt – und man kann sie auch wieder reduzieren. Ich wünsche mir eine Kultur, in der wir über notwendige Reformen sprechen, und zwar ohne Angst.