Der Psychologe hinter Friedrich Merz: Mit Tiefeninterviews gegen die AfD?


Immer noch streng vertraulich, was genau da besprochen wurde: Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald war neulich von Bundeskanzler Friedrich Merz zu einer sonntäglichen Strategieklausur des CDU-Präsidiums eingeladen worden. Grünewald sollte den AfD-Erfolg psychologisch erklären, sowohl was das individuelle wie das kollektive Unbewusste angeht, so jedenfalls reimt man sich das im Nachhinein zusammen. Die angemahnte Vertraulichkeit kann sich jedenfalls kaum auf sonderlich brisante Erkenntnisse beziehen, Grünewald ist kein „eye opener“, sondern ein psychologisierender Poet der Nachrichtenlage, von Haus aus mehr ein Marktforscher denn ein politischer Analytiker.

Als Geschäftsführer des Rheingold Instituts aktualisiert er laut Selbstbeschreibung der Einrichtung das Psychogramm der deutschen Konsumentenschaft, gibt „unverfälschte Einblicke in deren seelische Zusammenhänge“ sowie „konkrete Handlungsempfehlungen, zum Beispiel zur Kampagnen-Steuerung, Produktentwicklung oder Markenaufbau“. Hat das Geraune um Vertraulichkeit der Strategiesitzung womöglich auch etwas mit politischer Scham zu tun? Was versprechen sich die CDU-Granden davon, wenn sie zum Strohhalm der Konsumentenforschung greifen, ihr politisches Programm nach den Maßstäben der Produktentwicklung konkurrenzfähig halten möchten – wie doch die AfD genau dies vormacht?

Paul Ronzheimer traute sich nachzufassen

Im Nachgang zu seiner vertraulichen Expertise beim Kanzler macht Grünewald gerade die mediale Runde. Zum Beispiel unter der Überschrift „Merz’ AfD-Psychologe erklärt die Macht der Rechten“ im Podcast des Bild-Journalisten Paul Ronzheimer. Anders als Markus Lanz, auf den Grünewald eine starke Suggestion auszuüben schien (Lanz gab kein Widerwort, als sein Gast im rheinischen Sound von deutscher Befindlichkeit erzählte und erzählte und erzählte), also anders als Lanz ließ sich Ronzheimer von Grünewald nicht dauerbezirzen. Ronzheimer fasste nach, er wagte das Widerwort, als Grünewald seine Methode, alles mit allem zu erklären, allzu unkontrolliert ins Kraut schießen ließ.

So wollte der Psychologe dem Journalisten weismachen, der Ampelkoalition unter Olaf Scholz sei es in der Energiekrise erfolgreich gelungen, die „gestaute Bewegungsenergie“ der Bürger zu kanalisieren – wie dies auch jetzt der AfD gelinge. Wie denn, wo denn, was denn? Die vermeintliche Auflösung der begrifflich zwischen Triebstau und Verkehrsstau mäandernden Generalhemmung der Deutschen (Grünewalds Differenzialdiagnose: „das Grundübel unserer Gesellschaft“) habe ja nicht dazu geführt, so Ronzheimer ganz richtig, dass die Bürger die Ampel und Kanzler Scholz „gut fanden“ (wie jetzt die AfD im Analogieschluss von Grünewald). Was also soll der Vergleich?

Natürlich fasst Grünewald konkrete inhaltliche Einwände wie diesen nicht als Einladung zur methodischen Rechtfertigung seiner politischen Bewegungsanalyse auf, sondern bekräftigt sie ohne weiteres, jovial plaudernd: Es habe damals einen punktuellen „Schulterschluss“ zwischen Regierung und Wählerschaft gegeben, eine „Kompression“, die aber „nicht weiter ausgereizt“ wurde. Meint Kompression etwas Metaphysisches, empirisch nicht dingfest zu Machendes? Das imponierende Fremdwort, ad hoc herbeigezaubert, setzte Ronzheimer schachmatt, er ließ die Sache auf sich beruhen.

Methodisch ein Buch mit sieben Siegeln

Wenn Grünewald auf die Frage Ronzheimers, wie denn der Kanzler überhaupt auf ihn gekommen sei, antwortet, seine, Grünewalds „profunde Kenntnis von der Befindlichkeit der Menschen im Lande“ sei nun einmal bekannt, dann hat er einen Punkt: Grünewald betreibt seit Jahren freihändige Befindlichkeitsforschung auf der Basis von sogenannten „Tiefeninterviews“ (Assoziationsfeld Tiefenpsychologie), durchgeführt „in der Regel“, so die auch hier vage bleibende Selbstauskunft, von Psychologen.

Niemand im politischen Berlin hat Grünewalds schillernde Vereinnahmung von psychologischer Expertise so elegant auf den Punkt gebracht wie der Journalist Theo Koll. Bei der Vorstellung von Grünewalds Buch „Wir Krisenakrobaten“ umschiffte Koll eine nähere inhaltliche Qualifizierung des Werks mittels einer entzückten Stilkunde: „Es gibt ganz viele wunderbare Formulierungen, die die Lektüre an sich schon lohnend machen.“ Vielleicht meinte er damit Passagen des Buches wie jene, wonach AfD-Akteure eine „Blitzableiter-Funktion“ für die „gestaute Ausdrucksbildung“ innehaben nach dem Motto: „Die trauen sich und bringen Dinge zur Sprache.“

Wem soll da noch ein Licht aufgehen, wenn solche metaphorisch aufgeblähte Befindlichkeitsforschung auf Aufgebrühtes zur Cancel Culture hinausläuft, zur Blasenbildung der Kommunikation, zum Rückzug ins Private – quantifiziert jeweils mit ungefähren Angaben wie „viele“ und „immer mehr“. Wie ideell aufgeschmissen muss das politische Personal sein, wenn es Stephan Grünewald für einen Ideenspender hält?