Man wundert sich schon an diesem kalten Novembernachmittag, denn vor dem Silent Green Kulturquartier im Berliner Wedding, dem Austragungsort des 33. Open Mikes, hat sich eine lange Schlange gebildet. Junge Menschen die anstehen? Für Literatur? Im Jahr 2025?
Nach kurzer Verwirrung wird indes klar: Es handelt sich um kein Trompe-l’œil, sondern um ein parallel auf dem Gelände stattfindendes Tee-Festival, das die Leute mit Sorten wie Darjeeling und Sencha anlockt. Um Literatur soll es weiter hinten gehen, in der großen, okkult anmutenden Kuppelhalle des ehemaligen Krematoriums Wedding von 1910, zu Füßen des großen Schornsteins, längst seiner ursprünglichen Funktion enthoben.
Doch fällt es schwer, den ehemaligen und recht feurigen Zweck des Austragungsortes nicht als düsteres Omen zu deuten. Denn ob der „Open Mike“ in diesem Jahr überhaupt stattfinden würde, stand lange in den Sternen. Nur durch Zuwendungen des Deutschen Literaturfonds, sowie der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt konnte verhindert werden, dass die diesjährige Ausgabe in Rauch aufgeht.
Der Sparflamme zum Opfer fallen
Der allgemeine Sparzwang hat auch beim veranstaltenden Haus für Poesie erwartbare Folgen: Denn der Umzug aus dem Heimathafen Neukölln war kein freiwilliger. Begleitende Workshops und Mentoringprogramme werden zukünftig der Sparflamme zum Opfer fallen. Auch der Ausflug in den Wedding wird einmalig bleiben.
Im nächsten Jahr findet das Festival in einem Popup-Space in der Berliner Landesbibliothek statt – mietfrei und auf seine Kernkompetenz, das Wettlesen, zusammengekürzt.Um gesellschaftlichen Zusammenhalt ging es indes in kaum einem der zwölf Finalist:Innen-Texte. Hier liest immerhin die Generation Austerity, krisengebeutelt, identitätsbewegt und wortgewandt. Allerdings ist es kaum Trotz, mit dem die Autorinnen und Autoren der unschönen Weltlage begegnen. Zu beobachten ist viel mehr eine Öffnung nach innen statt außen. Es ist die Besinnung auf den eigenen Körper als letztes Refugium der Selbstbestimmung.
Es sind bildarme, aber gedankenreiche Gedichtzyklen, die beim Wettlesen vorgetragen werden
Biedermeierhaft kann man das finden, und bisweilen manieriert. Und ja, viele der Texte zeichnen sich in diesem Jahr durch gewisse Saturiertheit aus. Emma Matschinke schildert in ihrem Beitrag „Saisonal“ beispielsweise den Trauerprozess um den verstorbenen Vater – einigermaßen abgefedert durch ein geerbtes Haus. Politisch sind diese Texte nur auf der Oberfläche. Vielmehr wird ergründet, wie man sich als politisches Subjekt fühlt, wie man umgeht mit Männlichkeit, Queerness, Krieg, Austerität.
Auftrag zur Selbsterkundung
Es sind „Songs of Experience“ und die Erfahrung ist ganz schön trostlos. Der allgemeine Niedergang wird als Auftrag zur Selbsterkundung verstanden – wer kann sich auf die Gegenwart schon einen Reim machen? Kleine Konflikte gibt es kaum in diesen Texten, es werden die großen Geschütze aufgefahren, Tod, Krieg, Identität und der eigene Körper.
Die Autor:Innen rühren ihre oft schmerzhaften Sujets nur an, wenn sie auch biografisch in der eigenen Vergangenheit verankert sind. Explizit wird es selten, vieles bleibt nur angedeutet, vor allem die lyrischen Beiträge beschäftigen sich mehr mit ihrer eigenen Hermetik, als mit dem was ist. Es sind bildarme, aber gedankenreiche Gedichtzyklen, die hier vorgetragen werden.
So auch der mit dem Lyrikpreis prämierte Text „Lorem Ipsum“ von Nea Schmidt, der sich einer eindeutigen Deutung schon über seinen Titel entzieht. Vielleicht hat das auch mit dem „Open Mike“ selbst zu tun. Denn und das macht Moderatorin Tatjana Vogel gleich zu Beginn klar: Der Literaturmarkt ist umkämpft wie nie und der „Open Mike“ gilt wie kein anderer Wettbewerb als Kaderschmiede des deutschen Literaturbetriebs.
Sie haben es fast geschafft
Wer hier liest, hat es fast geschafft, so die Erzählung; ist nur noch einen Schritt vom Pantheon der großen Literatur entfernt. Hier wimmelt es von Agent:Innen und Betriebspersonal, hier scheint ein Alltag als Schriftsteller:In zum Greifen nah und dementsprechend viel steht auf dem Spiel. Zu viel für gutes Erzählen?
Traditionell kommt der typische Prosatext beim „Open Mike“ gerne hermetisch daher, vermischt lyrische Sprache mit Seelenzergliederung, zeigt eher auf die eigene Sprachfertigkeit, als auf die Lust am Geschichtenerzählen. Man bewirbt sich beim Betrieb am besten mit etwas Besonderem. Leider muss man konsternieren, dass wirklich Originelles in diesem Jahr fehlt. Alles hat man auf eine Weise schon einmal gelesen. Themen, Ton und Perspektiven lassen die Beiträge bisweilen verschwimmen.
Viele Texte behelfen sich eines Rückgriffs in die eigene Biografie und die Kindheit, um sich nicht die Finger an der politischen Moral zu verbrennen. Bemerkenswert, dass mit Hannah Beckmanns „Fortuna“ der einzige Text, der sich eines Erzählers in der dritten Person bedient, gleich zwei mal geehrt wird. Es ist eine stimmungsvolle Geschichte über Homosexualität und Männlichkeitskonzepte im Fußball und eben genau deswegen so gut, weil Beckmann kein männlicher, fußballspielender Halbstarker ist und nie war.
Neben der beinahe klassischen Figurenzeichnung überzeugt auch der schauspielerhafte Vortrag von Hannah Beckmann die hochkarätig besetzte Jury um die Autor:Innen Yevgeniy Breyger, Jackie Thomae und Dana Vowinckel. Dass auch der taz-Publikumspreis an die junge Autorin mit dem vielleicht klassischsten Text ging, sollte Betrieb und Veranstalter indes hellhörig werden lassen: Vielleicht ist ein Weg aus der Kürzungs- und Relevanzspirale genau dies: Eine Rückbesinnung auf das, um das es neben all der Betrieblichkeit bei einem Literaturwettbewerb eigentlich gehen sollte: Um gute Geschichten.
