

Zurück zu den Wurzeln: Wenn die Grünen Ende November auf ihrem Parteitag in Hannover zusammen kommen, soll der Klimaschutz wieder eine zentrale Rolle spielen. „Klima! Who cares? We care“ lautet der Titel einer Kampagne, in der die Partei die aktuelle Regierung als eine Koalition der fossilen Energien brandmarken will. Das zweite Thema, mit dem die Grünen wieder stärker bei den Wählern punkten wollen, ist die soziale Gerechtigkeit. Die nach dem Koalitionsausschuss Anfang Oktober vorgestellte Bürgergeldreform der Koalition haben führende Grüne mit scharfen Worten kritisiert. Union und SPD wollten die Menschen „in den Hunger“ schicken, sagte Fraktionsvize Andreas Audretsch.
Nach dem vorläufigen Rückzug von Robert Habeck aus der Politik ist vom sogenannten Realo-Flügel der Partei kaum noch etwas zu hören. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Mann, der im kommenden März in Baden-Württemberg Winfried Kretschmann als grüner Ministerpräsident beerben möchte. Im Gespräch mit dem F.A.Z. Podcast für Deutschland geht der frühere Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir nicht nur mit der schwarz-roten Koalition im Bund hart ins Gericht, sondern auch mit seiner eigenen Partei.
„Rückenwind sieht sicher anders aus“
„Ich sage mal so: Rückenwind sieht sicher anders aus“, sagt der Wahlkämpfer im „Ländle“ zu den jüngsten Wortmeldungen seiner Partei aus Berlin. Özdemir sieht dies aber nicht als Grünen-spezifisches Problem. Es träfe die CDU ebenso. Was die Parteien in Berlin fabrizierten, „da hat man manchmal den Eindruck, das ist so eine Art AfD-Förderprogramm“, konstatiert Özdemir. Die AfD profitiere davon, dass sich die anderen Parteien „wie die Kesselflicker“ stritten. Als gemäßigter und konstruktiver stellt Özdemir den Umgang mit dem politischen Gegner auf Landesebene dar. Auch innerhalb seiner Partei fühlt er sich in Baden-Württemberg wohler als in Berlin. Seine Rede auf dem Landesparteitag habe sich „nicht so sehr unterschieden von dem, was ich neulich bei der Industrie- und Handelskammer in Stuttgart gesagt habe“.
Was Özdemir zur Wirtschaftspolitik sagt, deckt sich in vielen Punkten mit dem, was auch Wirtschaftsverbände oder die CDU fordern. Beispiel Rentenpolitik: „Ich würde die Rente mit 63 abschaffen“, sagt Özdemir. „Die Sozialdemokraten glauben, dass längere Lebenserwartung und kürzeres Arbeiten irgendwie zusammengehen könnten. Ich glaube nicht, dass das auf Dauer funktioniert.“ Dass die Koalition im Bund den abschlagfreien Renteneintritt nach 45 Beitragsjahren beibehalten, zugleich aber mit der Aktivrente finanzielle Anreize zum Weiterarbeiten setzen will, hält er für „Irrsinn“. Özdemir spricht sich für eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung aus. Mehr noch: „Ich glaube, dass wir so etwas wie eine Art Agenda 2010 brauchen“, sagt er mit Blick auf das einst von SPD-Kanzler Gerhard Schröder vorangetriebene Reformpaket.
Den SPD-Politiker Franz Müntefering, der im Anschluss daran in einer schwarz-roten Koalition – auch zur Überraschung der damaligen Kanzlerin Angela Merkel – die Einführung der Rente mit 67 anstieß, nennt der Grüne einen „großen Sozialdemokraten“. Lobend erwähnt Özdemir auch die Jungen in der Unionsfraktion, die derzeit gegen das vom Kabinett beschlossene Rentenpaket aufbegehren. Sie hätten Hinweise gegeben, „mit denen eine Beschäftigung sich durchaus lohnen würde“.
Auf Distanz zur grünen Klimapolitik
Der Grünen-Politiker geht aber nicht nur auf Distanz zur Wirtschaftspolitik der Regierung, sondern auch zur Klimapolitik der Grünen. Trotz Kritik aus seiner Partei hält er an seiner Position fest, das auf EU-Ebene für 2035 beschlossene Neuzulassungsverbot für Autos mit Verbrennungsmotor flexibler zu handhaben. Für den Übergang würden Hybride gebraucht, sagt Özdemir. Und zwar „so lange, bis die Leute in die Elektromobilität gehen und es die Ladeinfrastruktur gibt.“ Im Jahr 2016 löste Özdemir schon einmal Unmut in seiner Partei aus, als er den damaligen Daimler-Chef Dieter Zetsche zum Parteitag einlud.
Im Leitantrag, den der Bundesvorstand der Grünen für den Parteitag geschrieben hat, heißt es derweil: „Es ist falsch, dass Union und SPD die europäische Einigung zum Verbrenner-Aus in Frage stellen.“ In der aktuellen Absatzkrise brauche die Branche „klare Leitplanken und gezielte Impulse“. Dass ab 2035 keine Verbrenner mehr zugelassen würden, sei eine solche „klare Orientierung“. In zwei der insgesamt fünf Leitanträge des Bundesvorstands geht es um die Klima- und Energiepolitik. Auf Drängen der Basis wird in Hannover außerdem über einen Antrag zur Finanzpolitik abgestimmt. In diesem wird eine höhere Besteuerung großer Erbschaften gefordert. Zudem wollen die Antragsteller, dass Gewinne aus dem Verkauf von Immobilien immer versteuert werden müssen, nicht wie bislang nur innerhalb der ersten zehn Jahre nach dem Kauf.
Das sogenannte Heizungsgesetz spielt in den Anträgen eine untergeordnete Rolle. Özdemir bekommt im Wahlkampf dennoch dessen Auswirkungen zu spüren. Seit die Debatte darüber im Frühjahr 2023 begann, hat die CDU die Grünen in Baden-Württemberg vom ersten Platz in den Umfragen verdrängt. Die CDU kommt aktuell auf rund 29 Prozent. AfD und Grüne folgen mit Werten von 21 beziehungsweise 20 Prozent. „Ein Konzept einer NGO muss in der Regierung immer angepasst werden an das Machbare, an das Mögliche, an die Interessen anderer“, sagt Özdemir – ein Seitenhieb in Richtung Habecks und seines Staatssekretärs Patrick Graichen, der den Plan für die Wärmewende aus dem Thinktank Agora Energiewende mit ins Wirtschaftsministerium gebracht hatte. Ambitionen, die Politik der Grünen noch einmal an der Parteispitze mitzuprägen, hat Özdemir nach eigener Aussage aber nicht. „Zehn Jahre Vorsitzender der Grünen ist wie fast 20 Jahre in anderen Parteien“, sagt er. Das sei ein Scherz, schiebt er vorsichtshalber schnell noch hinterher.
