

Ich saß auch schon in jungen Jahren als Schriftführerin vor den Abgeordneten, und seit dieser Zeit hat sich viel geändert. Die Blockbildung an den Rändern ist groß, zehn Prozent der Abgeordneten ganz links und rund 25 ganz rechts. So wird nicht nur leicht sichtbar, ob es Mehrheiten gibt. Auch die Kluft zwischen den Fraktionen ist sehr auffällig.
Was fällt Ihnen noch auf?
Ich sehe, wie voll die Besuchertribünen sind. Wir sind ein offenes Parlament, ein Besuchermagnet, das ist erfreulich. Es gibt aber das Paradox, dass wir zwar mit zwei Millionen Besucherinnen und Besuchern im Jahr das meistbesuchte Parlament der Welt sind. Trotzdem vertrauen laut einiger Umfragen nur etwa 20 Prozent der Deutschen der Institution Bundestag. Wir müssen als Präsidium und Fraktionen dieses Vertrauen wieder ausbauen.
Was hat der Verlauf von Debatten, was haben die Klüfte im Parlament mit diesem Vertrauens-Paradox zu tun?
Die Arbeit der Abgeordneten hat sich sehr verändert, genauso wie die Debatten sich verlagert haben. Der Bundestag ist für manche nicht mehr der Ort des Austauschs von Argumenten. Diese Bühne der Demokratie wird immer mehr genutzt als Bühne für Tiktok.
Die Dynamik von Plenardebatten ändert sich. Früher war es wichtig, wo man genau auf der Rednerliste steht, um wirksam seinen Punkt zu machen. Da wurden die Plätze manchmal bis zum letzten Moment hin und her geschoben. Jetzt verschiebt sich häufig der Fokus. Es geht oft darum, überhaupt irgendwann eine Aufnahme am Rednerpult zu bekommen, um sich mit aufgeregter Sprache selbst für Tiktok in Szene zu setzen.
Wir sind aber nicht für uns selbst da. Es geht nicht ums Posen, es geht um Positionen. Wenn der gemeinsame Rahmen degradiert wird durch Aktivismus wie auch Shirts mit Botschaften, Fahnen oder inszenierte Empörung, dann wird es schwierig. Das spüren die Bürger. Ich bekomme so viel Zustimmung in Zuschriften dafür, dass wir hier jetzt für mehr Klarheit und Ordnung sorgen.
Das rechtfertigt für Sie auch, mit der Geschäftsordnung so harte Standards zu setzen bis hin zur Kleiderordnung? Dafür werden Sie ja kritisiert.
Und gelobt. Meistens kritisieren doch die, die es trifft. Wir haben klare Argumente auf unserer Seite: Wenn wir zum Beispiel Kopfbedeckungen erlaubten, wären der Kreativität hier keine Grenzen mehr gesetzt, vom Stahlhelm bis zum Basecap. Davon halte ich nichts. Wir sind das Parlament des Wortes, und wenn jemand gerade keine Redezeit hat, darf er sich nicht selbst Aufmerksamkeitszeit holen, indem er zum Beispiel Plakate hochhält.
Sie haben die Blöcke links und rechts angesprochen. In dieser Legislaturperiode gab es schon deutlich mehr Ordnungsrufe als in früheren Zeiten – wegen dieser Blockbildung, oder weil Sie strenger sind?
Zum einen sind diese Blöcke kommunizierende Röhren für ihre eigene Community, das prägt den Verlauf von Debatten. Bislang gab es bereits 23 Ordnungsrufe, 20 davon an die AfD, drei an die Linke. Es gibt daher den Wunsch im Haus, eine Spirale aufzuhalten, in der es immer mehr Versuche gibt, aufzufallen oder zu provozieren. Deshalb haben wir zum Beispiel auch Aufkleber auf Laptops verboten. Wir debattieren mit dem Wort, nicht mit Symbolen. Da wird viel ausgetestet von manchen Abgeordneten. Wir sorgen hier als Präsidium aber für Klarheit, setzen die Regeln konsequent um, die für alle gelten. Und ganz persönlich: Wir nennen uns das Hohe Haus, und ich will, dass wir dem Namen gerecht bleiben oder werden.
Aber die Debatten wird man nicht nur mit Verschärfungen einer Geschäftsordnung verbessern können.
Nein, dazu gehört mehr. Wir sollten uns nicht immer das Schlechteste unterstellen, zum Beispiel. Schon gar nicht in der Mitte. Wenn in der Mitte schon jeder als Demokratiefeind hingestellt wird, nur weil er mal nicht meine Meinung teilt, dann haben wir ein Problem. Oft wird gleich ein Bekenntnis zur eigenen Gesinnung erwartet, und wenn das nicht kommt, ist man rechts- oder wahlweise linksextrem. Das ist Ausdruck einer gewissen Denkfaulheit, wenn es nicht mehr um das Argument, sondern nur noch um Haltung geht.
Nehmen wir das Parteienverbot. Im Abitur hatte ich Sozialkunde Leistungskurs, und ich weiß noch genau, wie wir da ganz unvoreingenommen Pro- und Kontra-Argumente erarbeiten mussten. Man konnte danach zu unterschiedlichen, legitimen Entscheidungen kommen. Wenn man heute nur einmal Argumente nennt, warum aktuell ein Verbot der AfD problematisch sein könnte, wird sich nicht mit diesen Argumenten auseinandergesetzt. Stattdessen gibt es einen Shitstorm und den Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit.
Hatten Sie sich damals auch für Kontra entschieden?
Der entscheidende Punkt liegt doch im Konkreten: Ein Verbotsverfahren muss juristisch fundiert und absolut überzeugend sein. Man muss vom Ende her denken. Andernfalls nimmt die Glaubwürdigkeit unserer wehrhaften Demokratie Schaden.
Kürzlich wurde das Auto des AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann in Hamburg angezündet. Der Staatsschutz vermutet eine politische Tat, es gibt ein Bekennerschreiben von Linksextremen. Das Erschrecken über die Tat scheint verhalten zu sein.
Der Linken-Politiker Ferat Koçak erlebte vor einigen Jahren einen rechtsextremen Brandanschlag auf sein Auto. Das nebenstehende Haus hätte in die Luft fliegen können, weil da die Gasleitung in der Nähe war. Ich habe mit ihm und Herrn Baumann gesprochen. Und ich habe klargemacht: Beides sind furchtbare Taten. Es gibt keine vermeintlich gute oder richtige Gewalt in unserer Demokratie. Ich habe das deshalb in einer Plenarsitzung vergangene Woche zum Thema gemacht. Weder Adressat noch Absender von Gewalt dürfen entscheidend sein, sondern die Tat als solche ist es. Und da muss man sich als Demokraten doch einig sein!
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verrohung der Sprache im Bundestag und der Gewalt auf der Straße?
Aus Worten werden Taten. Was man in manchen Internetblasen lesen kann, ist hammerhart. Das sind Gleichgesinnte, die sich hochschaukeln. Diese Blockbildung führt zu der Frage: Mitlaufen oder nicht mehr dabei sein? Im Bundestag gibt es einen Schiedsrichter, die Sitzungsleitung. Den gibt es im Internet nicht.
Haben Sie diese Verhärtungen auch bei der Stadtbild-Debatte wahrgenommen?
Die Verhältnismäßigkeit stimmt nicht mehr. Wenn man einem Bundeskanzler Rassismus unterstellt, relativiert man alle Rassisten. Es ist außerdem eine bösartige Unterstellung. Die Diskussion in der Bevölkerung ist mehrheitlich eine andere, das zeigen Umfragen. Herrn Merz zu unterstellen, es gehe ihm beim Stadtbild um Hautfarbe – das hat keiner der normalen Leute gemacht.
Die Mehrheit hat schon verstanden, was er meint, das ist ja auch nicht so schwer. Denn sie erinnern sich, dass es mal Weihnachtsmärkte ohne Sicherheitspoller gab und dass Parks nicht ab einer gewissen Uhrzeit geschlossen waren. Das ist weder rechts noch links, das hat auch keine Parteifarbe. Das ist einfach Fakt.
Merz sagte, man müsse nur die Töchter fragen, die wüssten schon, was er meine. Wissen Sie als Frau, was er meint?
Natürlich. Es hat sich etwas verändert. Da ist ein Gefühl der Unsicherheit, aber das sagen auch die Kriminalitätsstatistiken.
Sie reden mit mir als Bundestagspräsidentin. Deswegen vergebe ich keine Haltungsnoten für die Regierung. Ich will nur daran erinnern, dass Demokratie eine Zumutung ist, aber auch Handwerk. Und ein hartes Geschäft. Koalitionen bedeuten, dass Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen zusammenkommen müssen. Es gibt Schnittmengen, aber man hat seine politische DNA nicht einfach miteinander gleichgeschaltet. Es kommt auf den Willen aller Beteiligten an, auch den eigenen Leuten zu erklären, dass man in einer Koalition nicht das gesamte Wahlprogramm durchsetzen kann. Grundsätzlich ist es durchaus sinnvoll, dass man sich an das hält, was man im Koalitionsvertrag verabredet hat.
Und wenn die Schnittmengen mit der AfD größer sein sollten?
Das ist nicht mein Thema.
Tritt die CDU noch souverän genug auf angesichts der Konkurrenz von rechts und der Nervosität in den eigenen Reihen?
Noch mal: Nicht Einigkeit ist das Ziel von Koalitionsregierungen, sondern Einigungsfähigkeit. Es muss für jede Seite Raum für Profilierung geben und einen Raum des Miteinanders, festgehalten im Koalitionsvertrag. Für die Union sind Sicherheit, legale Migration und wirtschaftliche Stärke sehr wichtige Themen.
In Sachsen und Thüringen regieren CDU-Ministerpräsidenten ohne eigene Mehrheit. Es ist mühsam, aber klappt irgendwie. Der thüringische CDU-Fraktionschef sagt sogar: „So wird die parlamentarische Diskussion wichtiger.“ Der Umgang miteinander werde auch besser. Würde eine Minderheitsregierung Ihrem Ansinnen nach besseren Debatten vielleicht helfen?
Man muss aus jeder Situation das Beste machen. Die Bürger wünschen sich Stabilität, und die bekommt man am ehesten mit verlässlichen Mehrheiten.
Ist das so? Die Bürger stärken ja immer mehr disruptive Kräfte.
Die Bürger sind sehr heterogen. Die Individualität gibt man aber schneller ab, wenn man im vermeintlichen Kollektiv etwas ablehnt. Da ist man sich schnell einig. Trotzdem hat der Rentner oft noch ein anderes Interesse als der Student. Schwieriger ist es, gemeinsam für etwas zu sein. Man will modern sein, aber das Vertraute auch schützen. Deswegen bin ich in einer bürgerlich-konservativen Partei. Ich weiß, es muss Veränderungen und Modernisierungen geben. Aber ihr Tempo muss so gestaltet werden, dass sie den Schrecken für die Menschen verlieren.
