
Ich war zu der Zeit im Urlaub in Israel, mit meiner Familie. Am 7. Oktober sind wir zum „Platz der Geiseln“ in Tel Aviv gegangen, den die Angehörigen der Entführten geschaffen haben. Dort spürte ich, wie schon bei vorherigen Besuchen, eine große Verzweiflung. Es gibt dort ein Klavier, an das sich Leute setzen und traurige Lieder spielen. Es gibt eine Attrappe eines abgebrannten Autos, um an den Anschlag vom 7. Oktober 2023 zu erinnern. Es gibt den Nachbau eines Terrortunnels. Und überall Bilder und Gegenstände der Opfer und der Geiseln. Zwei Tage später kam die Nachricht, dass es einen Deal gibt und dass die lebenden Geiseln nach Hause kommen. Da sind wir wieder zu diesem Platz gegangen, wie tausend andere Menschen auch. Der Ort war wie verwandelt. Aus diesem Platz der Stille und der Trauer ist plötzlich ein Platz der Freude und des grenzenlosen Jubels geworden. Menschen haben gesungen, sich in den Armen gelegen, getanzt.
Spüren Sie nach der Freilassung der Geiseln nun auch hier, in der jüdischen Gemeinschaft in Frankfurt, Zuversicht?
Ja. Es gibt ein Aufatmen, ein Durchatmen. Das Schicksal der Geiseln hat uns sehr bewegt. Wir haben mitgefiebert, mitgezittert und gebetet. Und jetzt gibt es eine große Erleichterung – auch darüber, dass Soldaten nach Hause kommen, dass mehr Ruhe und Sicherheit in Israel einkehren. Trotzdem haben wir nicht mit grenzenloser Euphorie reagiert, denn wir wissen, dass die Lage für uns Juden in Deutschland schwierig bleiben wird. Die Blauäugigkeit, zu denken, wenn dort jetzt Ruhe ist, wird hier wieder alles gut, gibt es nicht. Denn gar nichts ist gut. In Gesprächen mit Politikern, die ich in den letzten Wochen geführt habe, konnte ich spüren: Da gibt es einige, die glauben, dass sich die Situation nun schnell beruhigen wird. Das halte ich nicht nur für naiv, sondern für gefährlich. Der Hass gegen Juden wird nicht verschwinden. Es gibt keinen Resetknopf, der dafür sorgt, dass alles wieder wird wie vor dem 7. Oktober.

Aber wie ist es konkret in der Gemeinde? Können Sie nun zum Beispiel die Sicherheitsmaßnahmen zumindest etwas zurückfahren?
Nein. Überhaupt nicht. An der Sicherheitslage hat sich gar nichts verändert. Die Bedrohungen sind von mehreren Seiten weiterhin da. Und auch die Sorgen unserer Gemeindemitglieder sind nicht kleiner geworden. Viele wollen noch immer nicht, dass wir ihnen Post nach Hause schicken, bei der man erkennt, dass sie von der Gemeinde kommt. Oder Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder mit einer Davidsternkette nach draußen gehen oder in der Öffentlichkeit Hebräisch sprechen. Diese Angst ist da, und sie bedeutet Unfreiheit. Weil man sich Gedanken machen muss, wie man sich äußert, wie man sich zeigt.
Ja. Wir dürfen nicht vergessen: Das ist ein Deal mit Terroristen. Ein Beispiel: Die Hamas hätte laut der Vereinbarung längst alle Leichen freigeben müssen, was noch immer nicht geschehen ist. Das sind psychologische Spiele, das sind grauenhafte Spiele mit den Gefühlen der Familien der Opfer. Und es stärkt natürlich das Vertrauen nicht. Deshalb sind zu Recht viele skeptisch, ob die Hamas tatsächlich die Waffen niederlegen wird. Die Hamas hat ihr Ziel, Israel zu vernichten und Juden zu töten, nicht aufgegeben. Und es gibt im Ausland auch Funktionäre, die offen sagen: Wir planen schon den nächsten 7. Oktober.
Vor gut einem Jahr haben Sie davon berichtet, dass muslimische Gemeinden, zu denen zuvor ein gutes Verhältnis bestand, nach dem 7. Oktober den Kontakt abgebrochen haben und dass Sie davon enttäuscht waren. Haben Sie die Hoffnung, dass ein Dialog nun wieder beginnen kann?
Unsere Tür ist offen. Unser Gesprächsangebot richtet sich an alle, unabhängig von Religion oder Herkunft. Aber wir brauchen Partner, die sich mit uns an einen Tisch sitzen. Und da war es in den letzten zwei Jahren leider oft sehr ruhig. Häufig haben wir keine Ansprechpartner gefunden, die einen Dialog führen und Brücken bauen wollten. Das war aber auch nicht nur von muslimischer Seite so. Wir haben das offen kommuniziert: dass wir uns mehr Unterstützung und Solidarität gewünscht hätten. Ich nenne das unseren Frankfurter Weg: Wir als Jüdische Gemeinde sind in unseren Aussagen laut und klar.
Sie haben zuletzt auch die Stadt mehrmals kritisiert, etwa als eine Hausbesetzung durch propalästinensische Gruppen wochenlang toleriert wurde. Oder wenn die Stadt zögerte, israelfeindliche Demonstrationen zu verbieten. Scharf verurteilt haben Sie auch das „System Change Camp“, wo es Gruppen gab, die palästinensischen Terror als Widerstand feierten. Ist diese Kritik angekommen?
Wir haben zur Stadt und zum Magistrat, und zwar unabhängig von den einzelnen Parteien, ein sehr gutes und vertrauensvolles Verhältnis. Das bedeutet aber nicht, dass uns alles gefällt und dass man nicht auch unterschiedlicher Meinung sein kann. Wir suchen das direkte Gespräch, sind aber auch selbstbewusst genug, wenn uns Entscheidungen der Stadt nicht gefallen, das auch klar in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Da habe ich schon den Eindruck, dass das nicht nur gehört wird, sondern auch Prozesse in Gang setzt – etwa bei dem besetzten Haus im Gallus. Bei den Verboten von Demonstrationen hätte ich mir oft bessere juristische Begründungen gewünscht. Damit würde man es den Verwaltungsgerichten schwerer machen, solche Verbote zu kippen. Beim „System Change Camp“ war es ganz eklatant. Da hat der Magistrat sehr chaotisch agiert. Und dann kam es ja auch zu einem Eklat mit Ansage: Ein Mitglied unserer Gemeinde, das im Park Plakate aufhängte, um an die Geiseln in Gaza zu erinnern, wurde mit roter Farbe attackiert.
Der Gazakrieg hat, je länger er lief, die Gesellschaft immer heftiger gespalten. Debatten waren kaum mehr möglich. Wie kann man nun wieder miteinander ins Gespräch kommen?
Unterschiedliche Meinungen dürfen in einer Demokratie nie ein Grund sein, nicht mehr miteinander zu sprechen. Man kann auch heftig diskutieren und streiten – solange man beim Thema bleibt und solange Kritik an Israel und der israelischen Regierung nicht in Antisemitismus ausartet. Doch diese Grenze wurde in den letzten zwei Jahren häufig überschritten. Da würde ich mir von vielen etwas Selbstkritik wünschen, gerade im Kulturbetrieb. Ich hoffe, dass wir nun bald, mit etwas Abstand, auch wieder viele Diskussionen erleben werden, die ruhiger, sachlicher und weniger emotional geführt werden. Aber das Bewusstsein, dass es Grenzen gibt, muss da sein. Zu erkennen, dass sich hinter der Kritik an Israel ganz häufig Judenhass verbirgt. Wer das leugnet, wird das Problem niemals lösen.

Wie wird in der Gemeinde selbst über den Konflikt gesprochen? Dort wird es sicherlich auch sowohl Gegner wie Befürworter des Kriegs geben. Streiten Sie viel untereinander?
Selbstverständlich gibt es auch in der Jüdischen Gemeinde zu allen Punkten mehr als eine, auch mehr als zwei Meinungen. Wir sind eine sehr lebendige Gemeinde, in der untereinander heftig diskutiert wird. Die letzten zwei Jahre haben aber auch dazu geführt, dass wir eng zusammengerückt sind. Die Gemeinde wurde immer mehr zu einem „Safe Space“, in dem man Hoffnung, Kraft und Zuversicht teilt. Es gibt in der Gemeinde eine starke Solidarität mit Israel, das heißt nicht mit der israelischen Regierung, sondern mit dem Staat Israel, mit den Menschen in Israel. Und es gibt das Bewusstsein, dass der 7. Oktober nicht nur ein Angriff auf Israel war, sondern ein Angriff auf alle Juden. Das übersehen viele. Das Ziel des Anschlags war, so viele Juden wie möglich zu töten, egal ob sie rechts, ob sie links stehen, ob sie religiös sind oder nicht.
In der Debatte über den Krieg wurde Israel-Unterstützern vorgeworfen, dass sie das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung ignorierten. Gerade in Deutschland werde palästinensischen Stimmen kaum Raum gegeben. Trifft diese Kritik zu?
Wenn ich mir die Berichterstattung in vielen deutschen Medien anschaue, insbesondere bei den Öffentlich-Rechtlichen, dann kann ich das absolut nicht teilen. Da war vieles einseitig, Narrative der Hamas wurden ungeprüft übernommen. Ursache und Wirkung wurden durcheinandergebracht oder nicht benannt. Ich kenne niemanden in der Jüdischen Gemeinde, der nicht das Leid der palästinischen Zivilbevölkerung sieht. Aber ich sehe in Medien und in der Bevölkerung häufig, dass nicht mehr gesehen wird, dass die Hamas mit ihrem Angriff genau das provoziert und gewollt hat, worunter die Menschen nun leiden. Die Terroristen verstecken sich hinter ihrer eigenen Bevölkerung, sie haben die Tunnel unter Kindergärten gegraben, die Kommandozentralen in Krankenhäuser gelegt. Das Sterben der Zivilisten wird billigend in Kauf genommen. Die Verantwortung für all das Leid trägt einzig und allein die Hamas. Jetzt, nachdem sich das israelische Militär zurückgezogen hat, dominiert sie auch wieder die Straßen, kommt es zu willkürlichen Erschießungen und Terroraktionen. Dagegen gibt es komischerweise keine einzige Demonstration in Deutschland.
Warum sehen so viele in den Hamas-Kriegern keine Terroristen, sondern Freiheitskämpfer?
Eine große Rolle spielt dabei Social Media. Was man dort erfährt, ist selektiv, es wird von Algorithmen bestimmt. Es wird bewusst verfälschend informiert – und damit werden junge Menschen erreicht, die die klassischen Medien gar nicht mehr wahrnehmen. Das ist ein gewaltiges Problem. Ich gehe oft in Schulen. Dort treffe ich auf Kinder, die mit Vokabeln wie Völkermord und Genozid um sich schmeißen. Und wenn ich sie frage, woher das kommt, dann heißt es immer: Tiktok, Instagram, das hat mir jemand geschickt, das habe ich auf Social Media gesehen. Das ist gefährlich. Und darauf hat die Politik bis heute keine Antworten. Man muss überlegen, wie sich das eindämmen lässt. Aber auch, wie man ein Gegengewicht dazu schafft, mit Bildung. Wie man den richtigen Umgang mit Social Media lehrt, wie man etwas hinterfragt, Fake News erkennt, nach anderen Quellen sucht. Da ist Bildung gefragt, da sind die Schulen gefragt, die Elternhäuser. Aber eben auch die Politik.
Was hat Sie persönlich in der Zeit nach dem 7. Oktober besonders getroffen?
Das waren viele Begegnungen mit Menschen, die nicht bereit waren, zu verstehen, was dieser Terror in uns ausgelöst hat. Die nicht nachvollziehen konnten oder wollten, dass wir trauern, dass wir Ängste haben, dass wir um unsere Zukunft in Deutschland bangen. Das hätte ich in dieser Masse und Vehemenz nicht erwartet. Dass zu viele zu stumm geblieben sind, während der Judenhass mit so einer Wucht auf uns einschlägt, das hat mich enttäuscht.
