Formel 1 in Brasilien: Die Kronprinzen machen Furore – Sport

In diesem Stadtverkehr, der eher ein Stadtstillstand ist, bleibt auf dem Weg zum Autodromo Carlos Pace immer genug Zeit, sich an der Ausfahrt zum Cemitério Morumbi vorbeizustauen. Es ist nicht der Name des Friedhofs, der auf alle Paulista so magisch wirkt, sondern der von Ayrton Senna da Silva. Dreimaliger Formel-1-Weltmeister, Seele des Grand-Prix-Sports bis heute, in seiner Heimat nach dem Tod auf der Rennstrecke von Imola 1994 als Märtyrer verehrt. Kaum einer der Piloten, die morgen beim Großen Preis von Brasilien antreten, kommt an Senna vorbei. Für manche ist er Vorbild, alle werden nach ihm gefragt, gleichwohl das aktuelle Titelrennen zwischen Lando Norris, Oscar Piastri und Max Verstappen beim viertletzten WM-Lauf der Saison auch genügend Gesprächsstoff böte. Legende ist nun mal Legende.

Auch für die Kronprinzen in diesem Formel-1-Jahrgang, der ein ganz besonderer ist. Denn selten haben Neulinge auf Anhieb so Furore gemacht wie das Quartett mit Andrea Kimi Antonelli, Isack Hadjar, Oliver Bearman und Gabriel Bortoleto. In der aktuellen Punktetabelle ist Letzterer mit beachtlichen 19 Zählern zwar der Schwächste und liegt nur auf Rang 19, aber der Mann, den alle nur „Gabby“ rufen, hat ein Heimspiel in Interlagos. Mit sechs schon hat er seine Kreise auf der Kartbahn beim Autodromo gedreht und war auf die Mauer geklettert, wenn Motorengebrumm der Formel 1 zu hören war.

Um Senna noch live erlebt zu haben, ist er viel zu jung. Eine tiefe Beziehung zum berühmten Landsmann hat er dennoch. Der Pilot des künftigen Audi-Werksteams fährt mit einem gelb-grünen Helm im klassischen Senna-Design. Sein ganzes Heimatland wartet schon lange auf einen Nachfolger, nachdem weder Rubens Barrichello noch Felipe Massa die großen Träume erfüllen konnten. Tatsächlich gilt der 21-Jährige als das Talent mit der vielleicht größten Perspektive, so sieht es jedenfalls sein 17 Jahre älterer Teamkollege Nico Hülkenberg, und Komplimente vom direkten Rivalen sind selten in diesem Geschäft: „Er ist einer der vielversprechendsten Neulinge, die ich seit Langem gesehen habe. Er lernt extrem schnell und ist extrem schnell.“

Auch sonst hat der Rennfahrer, der durch die Formel 3 und die Formel 2 in die Königsklasse durchmarschierte, die bestmöglichen Mentoren. Sein Manager ist Formel-1-Senior Fernando Alonso, sein bester Kumpel der Weltmeister Max Verstappen. Aus der schon seit ein paar Jahren andauernden Beziehung zum Niederländer wird auch deutlich, warum Bortoleto und die anderen Rookies auf Anhieb so gut klarkommen: Sie holen sich ihre Routine auf den Plattformen für Sim-Racing und minimieren digital und trotzdem beinahe originalgetreu ihre Eingewöhnungsphase mit den schwierigen Bodeneffekt-Rennwagen. Bortoleto schaffte zuletzt in Mexiko einen Husarenritt von Startplatz 16 aus in die Punkteränge.

Isack Hadjar gilt mittlerweile als aussichtsreichster Kandidat für den Platz neben Max Verstappen

Mercedes-Eigengewächs Kimi Andrea Antonelli, der schon seit Kindertagen im Visier der Talentspäher mit dem Stern ist, wird als WM-Siebter mit 97 Punkten derzeit am höchsten notiert. In den Italiener wurde auch das meiste Ausbildungsgeld investiert. Er mischte früh vorn mit, geriet dann auch ob des launischen Silberpfeils in eine Sinnkrise, um sich dann wieder zu emanzipieren. Höhen und Tiefen, für die frühere Neulinge deutlich mehr Zeit brauchten, erlebt der 19-Jährige im Schnelldurchgang. Und wer hat in seinem Alter schon eine eigene Netflix-Doku?

Sein Chef und Mentor Toto Wolff ist sicher, dass das alles erst der Anfang ist: „Wir werden in der nächsten Saison den wahren Kimi kennenlernen.“ Der Hochgelobte war Mitte der Woche nach Morumbi gepilgert und setzte sich ans Grab von Ayrton Senna: „Ich wollte meinem Idol Hallo sagen, er war schon immer meine Inspiration.“ Der Italiener kehrte sogar noch einmal zurück, weil ihn die Atmosphäre beim ersten Besuch so ergriffen hatte, und setzte sich lesend in die Nähe der Ruhestätte. Titel des Buches, das natürlich eine Senna-Biografie war: „Zur Perfektion getrieben.“

Wird als WM-Siebter mit 97 Punkten derzeit unter den Rookies am höchsten notiert: Mercedes-Fahrer Andrea Kimi Antonelli.
Wird als WM-Siebter mit 97 Punkten derzeit unter den Rookies am höchsten notiert: Mercedes-Fahrer Andrea Kimi Antonelli. (Foto: Raquel Cunha/Reuters)

Isack Hadjar aus dem Talentschuppen von Red Bull wird in São Paulo nach einem legendären Rennen von Alain Prost gefragt, aber der Franzose spricht ungerührt nicht über seinen großen Landsmann, sondern lieber über dessen Gegenspieler Senna. Der 21-Jährige war beim Saisonstart in Melbourne sicher der unglücklichste aller Rookies, als er gleich in der Einführungsrunde seinen Racing-Bull-Rennwagen in die Barrieren setzte und Tränen folgten. Lange musste er sich nicht dafür schämen, er stand in Zandvoort zum ersten Mal auf dem Podium und gilt mittlerweile als aussichtsreichster Kandidat für den Platz neben Max Verstappen 2026 im A-Team des Getränkekonzerns. Hadjar ähnelt dem vierfachen Champion – er ist ein Instinktfahrer mit überlegter Chuzpe.

Oliver Bearman gehört mit 20 auch in diese Kategorie, obwohl er bei Haas-Ferrari wohl im schwächsten Auto sitzt. Aber anders als sein prominenter Vorvorgänger Mick Schumacher, der nach zwei glücklosen Jahren und ohne Rückhalt in der damaligen Teamführung ausgemustert wurde, setzt er immer wieder Akzente. Nach seinem herausragenden vierten Platz beim vergangenen Rennen in Mexiko wird der Ferrari-Zögling sogar ernsthaft als Nachfolger bei der Scuderia für seinen großen Landsmann Lewis Hamilton gehandelt.

Bearman ist ein eiskalter Vollstrecker, was sich auch in einem bislang dicken Konto an Strafpunkten ausdrückt. Bei allem gelegentlichen Übermut ist da aber auch Respekt, beispielsweise im direkten Duell mit Champion Verstappen: „Ehrlich gesagt habe ich mir in die Hosen gemacht, als ich Seite an Seite mit Max war. Aber es ist echt cool, Rad an Rad mit Leuten zu fahren, denen ich zugeschaut habe, seit ich angefangen habe, Formel 1 zu gucken.“ Aber bis sich solche Duelle auch für Bearman und die anderen Rookies wie Alltag anfühlen, dürfte es nicht mehr lange dauern.