HSV-Spielerin Jobina Lahr: „Jede schwerere Verletzung erlitt ich am ersten Tag, wenn ich meine Periode bekam“

Die Fälle von Kreuzband-Verletzungen im Frauen-Profifußball häufen sich. HSV-Defensivspielerin Jobina Lahr hat es in ihrer Karriere allein viermal erwischt. Aus ihrer Sicht ist der weibliche Körper im Leistungssport im Vergleich zu den Männern noch zu wenig erforscht worden.

Die Crux mit dem Kreuzband. Laut des Portals „Soccerdonna“ fehlen derzeit bei den 14 Bundesliga-Teams insgesamt 16 Spielerinnen wegen eines „Ligamentum cruciatum“, so der lateinische Begriff für den Kreuzbandriss. Prominenteste Ausfälle sind neben Nationalspielerin Lena Oberdorf (FC Bayern) und EM-Stürmerin Giovanna Hoffmann (RB Leipzig) Bayern-Stammspielerin Sarah Zadrazil und Frankfurts Torhüterin Sophia Winkler. Der DFB registrierte in der Saison 2023/24 insgesamt 26 Kreuzbandrisse in der 1. und 2. Frauen-Bundesliga.

„Frauen haben aus verschiedenen Gründen ein deutlich erhöhtes Risiko, im Sport und gerade im Fußball an Kreuzbandverletzungen zu leiden“, sagte Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln der dpa. „Die Wissenschaft geht mindestens von einem doppelt so hohen Risiko aus. Einige Quellen sprechen sogar von einem fünf bis sechs Mal so hohen Risiko.“ Die bisher erforschten Ursachen fasst Froböse so zusammen: „Anatomische Gründe wie eine Neigung zu leichten x-Beinen bei Frauen, eine engere knöcherne Führung des Kreuzbandes, weniger Muskelmasse, schwächeres Bindegewebe.“

So sei das Kreuzband meist dünner bei Frauen, hormonelle Einflüsse wie bei der Menstruation würden es zusätzlich schwächen. Oft gebe es eine etwas andere Bewegung, Mechanik und Abläufe aufgrund der gegebenen anatomischen und physiologischen Struktur als bei Männern – „was auch erhöhte Belastung des Kreuzbandes bedingt“. Das bekam HSV-Spielerin schmerzhaft zu spüren – gleich mehrmals sogar.

Frage: Frau Lahr, Sie erlitten unter anderem vier Kreuzbandrisse in Ihrer Karriere – dennoch spielen Sie noch Fußball für den Bundesligisten HSV. Sind Sie eine Masochistin?

Jobina Lahr: Manche sagen: Ich stehe darauf, dass ich gern leide. Nach manchen Spielen habe ich am nächsten Tag Schmerzen. Bei einer Skala von eins bis zehn ist es eine Neun. Oder mein Arzt Dr. Michael Strobel in Straubing meinte zu mir: „Für dich muss ich extra eine Bonuskarte einführen.“ (lacht) Aber mal im Ernst: Ich will selbst entscheiden, wann ich mit dem Fußball aufhöre – und nicht durch eine Verletzung dazu gezwungen werden. Das treibt mich an.

Frage: Am 14. November 2012 rissen Sie sich als Spielerin des SC Freiburg im Bundesliga-Spiel bei Turbine Potsdam das erste Mal das Kreuzband im linken Knie. Wie passierte das?

Lahr: Insgesamt verlief an dem Tag einiges von Anfang an verkehrt. Wir spielten mittwochs in Potsdam, flogen zum Spiel. Vor der Abreise stellte ich fest, dass mein Personalausweis abgelaufen war. Ich musste mir noch schnell ein Ersatzdokument ausstellen lassen, damit ich mitfliegen konnte. Dann passierte das mit dem Kreuzbandriss kurz vor Schluss des Spiels. Durch eine Grätsche meiner Gegenspielerin wurde mir das Bein weggerissen. Ich war kurze Zeit ohnmächtig durch die Schmerzen.

Frage: Wie ging es dann weiter?

Lahr: Erst wollte ich durch eine konservative Behandlung wieder gesund werden, aber kurz vor Weihnachten ließ ich mich doch operieren. Danach folgte eine klassische Reha. Aber nicht so professionell wie heute, sondern wie die eines „Otto Normalverbrauchers“ mit drei Therapie-Terminen pro Woche. Ich kämpfte mich langsam wieder heran.

Frage: Fünfeinhalb Jahre später folgte der nächste Rückschlag.

Lahr: Ich erlitt eine Innenmeniskus-Verletzung im linken Knie und musste wieder operiert werden. Aber nach wenigen Wochen konnte ich wieder spielen.

Frage: Bis zum 20. April 2019. Was geschah dann?

Lahr: Im Spiel beim 1. FFC Frankfurt hat es mein rechtes Knie richtig zerschossen. Kreuzbandriss, Meniskus- und Knorpelschäden. Dazu war meine Kniescheibe verschoben. Das alles ohne gegnerische Einwirkung. Als Abwehrspielerin reagiert man auf Bewegungen der Stürmerin. Ich wollte einen Richtungswechsel einleiten, mein Fuß hatte sich dabei im Boden verkantet, dann war es vorbei. Jeder Breakdancer wäre vielleicht froh gewesen über die Art der Bewegung, ich nicht. Ich hatte wieder höllische Schmerzen. Aber es gab etwas, was viel schlimmer war …

Frage: Erklären Sie es bitte.

Lahr: Wenige Tage später stand das DFB-Pokal-Frauen-Finale an, wir hatten uns dafür gegen den VfL Wolfsburg in Köln qualifiziert. Einmal so ein Finale als Spielerin zu erleben, das war mein großer Kindheitstraum. Noch heute habe ich ein Poster vom Pokal in meinem Kinderzimmer als Ansporn. Und dann wurde mir das Ereignis genommen, das schmerzte mehr als die Verletzung. Das hat mich ganz schön kaputt gemacht.

Frage: Sie machten wieder eine Reha. Allerdings gab es Probleme. Wa­rum?

Lahr: Nach der Operation konnte ich mein Knie nicht so bewegen, wie es sein sollte. Ich habe viele Schmerzmittel genommen, um durch Training die 90-Grad-Stellung zu erreichen. Es klappte nicht, ich musste erneut unters Messer. Danach ging es mir besser, ich konnte mein Bein wieder normal bewegen und kämpfte mich ein weiteres Mal heran – vor allem durch ausreichenden Muskelaufbau. Und dann riss ich mir im ersten Training mit der Mannschaft auf dem Platz wieder das Kreuzband im rechten Knie. Am 20. April 2020, genau ein Jahr nach meinem zweiten Kreuzbandriss.

Frage: Wie das?

Lahr: Durch eine Bewegung, die ich während der Reha 1000-mal ohne Probleme machte. Bei einer Übungsform wie im Footbonaut, imitiert auf dem Platz mit Mini-Toren (14 x 14 Meter große Kunstrasenfläche zur Verbesserung der Handlungsschnelligkeit von Spielern, die Redaktion). Ich wollte mich drehen und habe mir das rechte Knie verdreht.

Frage: Spätestens dann müssen doch Zweifel aufgekommen sein, dass es mit dem Fußball nicht mehr weitergeht, oder?

Lahr: Auf der einen Seite habe ich kurz darüber nachgedacht. Aber ich wollte unbedingt weiter Fußball spielen. Doch ich gebe zu: Ich brauchte damals psychologische Unterstützung, denn der Druck war immens. Ich hatte depressive Phasen. Aber ich nahm keine Medikamente, sondern zwei- bis dreimal die Woche Therapiestunden.

Frage: Sie kämpften sich ein weiteres Mal erfolgreich zurück, feierten im Herbst 2021 Ihr Comeback …

Lahr: Ich machte mein erstes Spiel für die zweite Mannschaft des SC Freiburg gegen Frankfurt III. Ich wurde rund 30 Minuten vor Schluss eingewechselt, dachte: Eigentlich ist das Spiel beim Stand von 1:3 gelaufen. Doch wir drehten die Partie, ich machte ein Tor. Das war super emotional für mich. Ich glaube, die ganze Mannschaft hat mit mir vor Freude geweint.

Frage: Elf Jahre waren Sie in Freiburg, dann kamen Sie 2023 zurück zum HSV. Wieso?

Lahr: In Freiburg hatte sich das Mannschaftsgefüge verändert, die Trainerin war neu, der Betreuerstab auch. Obwohl ich mich dort grundsätzlich immer wohlfühlte, kam ich zu der Erkenntnis: Ich möchte etwas anderes erleben. Deshalb der Wechsel, denn ich kannte ja Hamburg aus meiner Zeit von 2009 bis 2011. Der HSV hatte den Plan, in die Bundesliga zurückzukehren – dabei wollte ich helfen.

Frage: Und dann kam der 17. September 2023 …

Lahr: Der Tag, an dem mir zum vierten Mal das Kreuzband riss, dieses Mal im linken Knie. Aber auch davon erholte ich mich.

Frage: Haben Sie ein Vorbild?

Lahr: Ja, Marco Reus. Ein unglaublicher Spieler, aber er wurde während seiner Zeit in Dortmund auch immer wieder durch schwere Verletzungen zurückgeworfen – und gab nie auf. Ich hatte ihn mal als Pappfigur zu Hause. (schmunzelt)

Frage: Welche Erklärung haben Sie noch für Ihre erlittenen Kreuzbandrisse?

Lahr: Jede schwerere Verletzung erlitt ich am ersten Tag, wenn ich meine Periode bekam. Ich bin kein Arzt, aber es hängt sicher damit zusammen. Eine Frau hat dann zum Beispiel eine viel weichere Hüfte, man hat Rückenschmerzen. Man bewegt sich anders.

Frage: Auffallend: Die Statistik der Kreuzbandverletzungen im Frauenfußball ist höher als bei den Männern. Zuletzt erwischte es Nationalspielerin Lena Oberdorf vom FC Bayern. Zufall?

Lahr: Nein. Ich denke, dass der weibliche Körper noch zu wenig erforscht worden ist im Vergleich zu den Männern – wenn es sich um Leistungssport handelt. Wir Frauen haben zum Beispiel eine andere Hüftstellung, ein anderes Becken. Es müsste mehr in die Forschung investiert werden.

Frage: Sie spielen nach Ihren harten Comeback-Kämpfen wieder Bundesliga. Wie stolz sind Sie?

Lahr: Ich habe mir vier Tattoos auf meine Beine stechen lassen, die daran erinnern. Unter anderem einen Gladiatoren-Helm mit einem Lorbeerkranz drumherum. Nach dem Motto: Egal, was kommt – ich stehe wieder auf, lasse mich nicht unterkriegen. Und ich freue mich, beim HSV zu sein. Man merkt, dass der Verein den Frauenfußball fördern will. Wie zuletzt gegen Jena nun vor mehr als 5000 statt vor 300 Zuschauern zu spielen, das macht unglaublich viel Spaß und ist ein weiterer Grund für meinen Antrieb.

Das Interview wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, „Bild“, „Sport Bild“) erstellt und zuerst in der „Sport Bild“ veröffentlicht.