FC St. Pauli: Zwischen Pokaltriumph, Krisenstimmung und Klassenkampf – Sport

Alexander Blessin gelang das Kunststück, die komplexe Gefühlslage beim FC St. Pauli in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen. Der Coach atmete tief ein, atmete tief aus und richtete seinen Blick aufs Plenum im Pressesaal, ehe er in wieder mal feinstem schwäbischen Mundsang loslegte. „Es ist ja scho so“, sagte Blessin und umklammerte mit seinen Händen zwei übereinandergestapelte Kaffeebecher aus Pappe: „Wenn man nach drei Spieltagen sieben Punkte hat und dann von außen sehr, sehr viel reininterpretiert wird, das geht nicht spurlos an einem vorbei.“

Das „wegzuhalten“ sei schwierig, ergänzte Blessin, irgendwann befinde man sich in einer „Abwärtsspirale“, die noch dazu von innerbetrieblichen „Querelen“ verstärkt worden sei. Sein leicht verständlicher Lösungsansatz: bei sich bleiben. Äußeres ausblenden. Und nach zuletzt fünf Niederlagen in Serie dieses dramatische Weiterkommen in der zweiten Runde des DFB-Pokals als das nehmen, was es ist: als einen Dienstagabend, in dem alles drin war, was Pokalabende so packend und aufreibend macht – in dem durch diesen permanenten Seiltanz zwischen Gewinnen und Verlieren, zwischen Freud und Leid, aber zudem eine größere Erkenntnis liegen könnte. Wo lässt sich das für den Abstiegskampf benötigte Nervenkostüm besser stählen als in solch einem Fußballspiel?

8:7 haben die St. Paulianer laut Spielberichtsbogen über die TSG Hoffenheim triumphiert, zuvor mussten dafür insgesamt 14 Schützen beim Elfmeterschießen antreten, und der Spielverlauf musste zunächst in die eine, dann in die andere Richtung bewegen. Die Kiezkicker gingen bereits in der ersten Minute in Führung, Verteidiger Hauke Wahl drückte einen Eckball über die Linie. Daraufhin folgte, zumal in Anbetracht der Enttäuschungen der Vorwochen, das wohl Überzeugendste am Auftritt der Blessin-Elf: St. Pauli trat wieder wie St. Pauli auf, widerborstig, strukturiert, konzentriert. Auch nach kleinen und größeren Rückschlägen kehrten die Kiezkicker tapfer in ihre Ordnung zurück, das galt sowohl für die Phase nach dem Hoffenheimer 1:1 durch Grischa Prömel (47.) als auch für den Schlussakt nach Andrej Kramarics 1:2 in der Verlängerung (107.). Der Mittelfeldorganisator Joel Chima Fujita spielte gerade in der ersten Hälfte einen sauberen Pass nach dem anderen, der Defensivchef und Kapitän Eric Smith stemmte sich gegen die ausbrechende Hektik, und die von Blessin auf der Pressekonferenz erwähnten „Querelen“ verliehen den Kiezkickern bei Kontern die nötige Zuspitzung: Die Angreifer Andréas Hountondji und Oladapo Afolayan hatten sich im Training jüngst zu einer Rauferei hinreißen lassen, am Dienstag standen sie gemeinsam in der Startelf. Afolayan probierte viel und so manches gelang ihm.

Martijn Kaars, der teuerste Zugang der Klubgeschichte, ist auffällig glücklos – aber trifft immerhin im Elfmeterschießen

Der pfeilschnelle Hountondji riss mit seinen Tiefenläufen zwar hier und da mal eine Lücke, zum Ball unterhält er allerdings ein weiterhin geradezu feindseliges Verhältnis: In der inoffiziellen Verstolperrangliste dürfte der 23-jährige Beniner in Deutschlands Profiligen auf dem unangefochtenen ersten Platz stehen. Weil sich seine Konkurrenz im Angriff, die im Sommer hinzugestoßenen Mathias Pereira Lage und Martijn Kaars, zuletzt jeweils in bedenkliche Formtiefs gestürzt hatten, ging von den spätabendlichen Ereignissen ein womöglich wegweisendes Signal aus: Der eingewechselte Pereira Lage traf in der Nachspielzeit der Verlängerung zum 2:2 und sicherte St. Pauli die Teilnahme am Elfmeterschießen, bei dem der Portugiese seinen Versuch zwar vergab. Dafür traf dort dann der sonst auffällig glücklose Niederländer Kaars, mit einer Ablöse von vier Millionen Euro immerhin der bislang teuerste Zugang in der Geschichte des Kiezklubs. Beim entscheidenden Elfmeter behielt wiederum Abwehrmann Wahl die Nerven; die Grundlagenarbeit erledigte jedoch Torwart Ben Voll, in der internen Hierarchie eigentlich die Nummer zwei hinter Nikola Vasilj.

Die beiden Keeper hatten sich vor dem Elfmeterschießen in einen fachmännischen Austausch begeben und seien laut Voll zu einem unkomplizierten Ergebnis gekommen: einfach aufs „Bauchgefühl“ hören. Voll jedenfalls parierte zwei Hoffenheimer Versuche und rief wie der Rest der Kiezkicker auch sonst eine wirklich anständige Darbietung ab. „Wir haben Charakter bewiesen, jeder hat die Hand gehoben, als es um die Elfmeter ging“, erläuterte Kapitän Smith, der sein Team „nun endlich wieder auf dem richtigen Weg“ verortet. Nächste Etappe: Borussia Mönchengladbach, beim Heimspiel am Samstag am Hamburger Millerntor. Pokaltriumph hin, Pokaltriumph her. Auf St. Pauli bleibt bis auf Weiteres Klassenkampf angesagt.