
In Brasiliens Regenwald läuft ein Fußballturnier, das an Skurrilität kaum zu überbieten ist. Wer starten will, muss eine Schönheitskönigin stellen. Ihr Abschneiden bestimmt den Erfolg der Mannschaft maßgeblich mit.
Manaus, eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern mitten im Regenwald. Umgeben von so viel Grün, dass man meinen könnte, die Zivilisation ende hier. Tut sie nicht. Die Hauptstadt von Amazonas, dem größten der 26 Bundesstaaten Brasiliens, liegt zwar abgeschieden, aber nicht abgeschnitten. Die BR-174 schlängelt sich 740 Kilometer nach Norden bis Boa Vista, eine Asphaltlinie durch den Dschungel. Nach Süden allerdings führt nur der Fluss. Oder das Flugzeug. Oder gar nichts.
Hier steht die Arena da Amazônia, 2014 Spielort der Fußball-WM. Ein Stadion mit 43.000 Plätzen für eine Stadt, die schon lange keinen Erstligaklub mehr hat – Nacional Manaus spielte 1986 zum letzten Mal in der Eliteklasse. Dafür findet hier eine Veranstaltung statt, die an Skurrilität und Leidenschaft ihresgleichen sucht – und das seit 53 Jahren. Das Peladão, organisiert von der „Rede Calderaro de Comunicação“, einem lokalen Medienhaus, ist ein Fußballfest, das sich über fünf Monate zieht. Und das nach Regeln funktioniert, die es nirgendwo sonst gibt.
Bis zum 17. August meldeten sich dieses Jahr 329 Teams an: 189 in der Hauptkategorie, 83 Veteranenteams (Über-40), 22 Frauenteams, 35 Kindermannschaften. Der Rekord liegt bei 1209 eingeschriebenen Mannschaften im Jahr 2008. Mehr als 19.000 Spieler sind auf über 60 Spielfeldern im Einsatz. Ein logistisches Monster, an dem gut 20.000 Menschen direkt beteiligt sind: Spieler, Rainhas, Trainer, Schiedsrichter, Köche, Näherinnen.
Eine Regel des Mammut-Turniers übertrifft alle anderen an Bedeutung: Artikel 15. Er besagt, dass jedes Team der Hauptkategorie eine „Rainha“ stellen muss, eine Schönheitskönigin – eine junge Frau also, die parallel zum Fußball in einem eigenen Wettbewerb antritt, der trotzdem eng verwoben mit dem Fußballspektakel ist.
Während auf den Bolzplätzen gekickt wird, treten die Rainhas in einen eigenen Wettstreit. Wer dort weit genug kommt, kann für das eigene Team eine zweite Chance erwirken, sollte es bis dahin ausgeschieden sein. Das Abschneiden im Turnier hängt also nicht nur vom Ergebnis auf dem Platz ab, sondern auch vom Auftritt der Frau, die die Farben des Teams trägt.
Zwölf Finalistinnen ziehen auf eine Luxusyacht
Die Rainhas treten zunächst in Castings gegeneinander an. Eine Jury beurteilt sie nicht nur nach Äußerlichkeiten, sondern auch nach Auftreten, Ausstrahlung, Redegewandtheit. Von mehr als 100 Bewerberinnen bleiben am Ende zwölf Finalistinnen übrig. Sie ziehen auf eine Luxusyacht auf dem Rio Negro, wo die Reality-Show „Peladão a Bordo“ gedreht wird – 35 Tage, 24 Stunden Kamerabeobachtung am Tag. Am Ende wird die Königin gekrönt, sie bekommt neben einem Preisgeld auch ein neues Auto.
Das Herzstück des Turniers ist das „Quadro de Avisos“, ein überdimensioniertes schwarzes Brett: Hier werden Bekanntmachungen, Disziplinarmaßnahmen, Gruppenauslosungen, Spielprogramme, Ergebnisse, Tabellen und Fair-Play-Übersichten veröffentlicht. Für hunderte Teams – darunter Spieler, die bis zu 23 Stunden mit dem Boot aus dem Amazonas-Hinterland anreisen – ist es die zentrale Informationsquelle.
Ende August wurde das Peladão mit dem Spiel eröffnet, auf das ganz Manaus gewartet hatte: die Revanche des Vorjahresfinales. Vila Mamão, amtierender Champion, gegen ACEC/NGC (Associação Cultural e Esportiva Crespo). Tausende strömten auf die Ränge. Im Februar waren beim Endspiel sogar 40.000 Zuschauer in der Arena da Amazônia.
Parallel zu den Spielen auf den Plätzen beginnt für die Königinnen der Kampf um die Krone. 128 Rainhas haben sich 2025 registriert. Anfang September lernten sich Kandidatinnen und Spieler kennen, posierten für Fotos. Am 9. und 10. September fiel die erste große Entscheidung: Von 128 blieben 30 übrig. Eine Woche später folgte das große Casting im Theater Manauara Shopping.
Die Jury: eine Dermatologin, eine Haarstylistin, eine Make-up-Artistin, ein Schönheitswettbewerb-Experte und die Journalistin Baby Rizzato, früher Moderatorin des Königinnen-Formats im Fernsehen. Auf Yachten proben die Frauen ihre Choreografien, auf den Bolzplätzen läuft der Fußball.
Ganze Viertel verwandeln sich in Fanmeilen
Die Teams sind keine Vereine – sie sind vor allem Auswahlmannschaften der Stadtviertel. Wenn Associação Desportiva Tarumã spielt, spielt das Stadtviertel São José. Ganze Straßenzüge leeren sich dann, Geschäfte schließen früher, Familien pilgern gemeinsam zum Platz. União Compensa trägt stolz den Namen seines Arbeiterviertels im Westen der Stadt. Wenn Vila Mamão spielt, verwandelt sich das Viertel São Francisco in eine einzige Fanmeile. Kinder tragen die Vereinsfarben zur Schule, alte Männer diskutieren auf der Straße die Aufstellung, Mütter nähen Banner. Die Klubs entstanden aus Straßenmannschaften, gewachsen aus Nachbarschaft.
Gespielt wird auf 60 Bolzplätzen. Felder mit unebenem Rasen, wo schon mal Hühner zwischen den Torpfosten scharren. Die Fans stehen nicht auf Tribünen mit nummerierten Sitzen, sie drängen sich direkt am Spielfeldrand, Körper an Körper – so nah, dass sie den Schweiß der Spieler riechen können. Keine Absperrung, keine Barriere zwischen Publikum und Spiel.
Wenn der Schiedsrichter pfeift, protestiert die eine Hälfte, und die andere klatscht Beifall. Die Rivalität zwischen den Vierteln ist greifbar, aber nicht giftig – sie ist leidenschaftlich. Man hasst sich mit Respekt. Américo Loureiro, ein Peladão-Veteran, erinnert sich an längst vergangene Tage: „Einmal hetzte ein Trainer seinen Rottweiler auf den Schiedsrichter. Der rettete sich auf einen Baum“, sagt er und lacht. Heute läuft es zivilisierter, die Leidenschaft aber bleibt. Fünf Monate lang, jeden Tag.
Der Journalist Umberto Calderaro Filho gründete 1973 das Peladão. Damals erlebte Manaus einen Wirtschaftsboom durch die Freihandelszone, und viele junge Männer vom Land zogen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. „Calderaro hoffte, das Turnier könnte ihnen eine Perspektive geben“, sagt Messias Sampaio, der erste Turnierkoordinator des Peladão. Über die Jahre wuchs der Wettbewerb auf fünf Kategorien an.
2005 kam eine indigene Kategorie dazu. Die Idee hatte Jorge Terena, einer der Gründer der brasilianischen Ureinwohner-Bewegung. „Er wollte die verschiedenen Völker über den Sport zusammenbringen“, sagt João Paulo Barreto, Anthropologe und selbst vom Stamme der Tukano. Heute spielen 230 Athleten aus 14 indigenen Klubs mit: Sateré-Mawé, Tukano, Maraguá. Rund 30.000 von ihnen leben in Manaus.
Jucenilda Pena de Souza vom Volk der Sateré-Mawé spielt gemeinsam mit ihren Töchtern Angélica und Rangelma. Ihr Trainer Eduardo Rosseti Araújo hat sich sein Fußballwissen am Fernseher erworben, indem er Spiele der ersten brasilianischen Liga und natürlich der Nationalmannschaft angeschaut hat. Wer das indigene Turnier gewinnt, darf ins Achtelfinale der Hauptkategorie aufsteigen, wo die großen Namen spielen.
Autoscheinwerfer statt Flutlicht
Die soziale Durchmischung bei dem Turnier ist bemerkenswert: Mechaniker treten gegen Bauarbeiter an, Studenten gegen Taxifahrer, Fabrikarbeiter gegen Büroangestellte. Alle trainieren abends nach Feierabend, wenn die Hitze nachlässt. Der Fazenda São Pedro FC aus Tarumã Açu hat nicht mal Flutlicht auf seinem Platz – die Spieler richten Autoscheinwerfer auf das Feld, damit sie den Ball sehen können. „Die Jungs kommen nach acht, neun Stunden Arbeit hierher und schwitzen trotzdem für ihren Traum“, sagt Präsident Amaury Prado.
Manche schaffen sogar den Sprung. Nando vom Princesa do Solimões spielte in der zweiten Liga und schrieb 2015 Geschichte, als er als erster im Amazonas-Bundestaat geborener Spieler in der Arena da Amazônia im Staatsmeisterschafts-Finale stand. An großen Spieltagen stehen Scouts an den Seitenlinien.
Aktuell fiebert jede Mannschaft, die jetzt schon ausgeschieden ist, mit ihrer Schönheitskönigin mit. Hofft auf eine der 16 Wildcards, auf die zweite Chance, die sich ergibt, wenn Ende Oktober die Königin der Rainhas gekrönt wird und das „Paralelo das Rainhas“ startet. Die Finals aller Kategorien werden in der Arena da Amazônia ausgetragen. „TV A Crítica“ überträgt live.
Seit 53 Jahren läuft dieses System. Eine absurde Konstruktion, die nirgendwo sonst funktionieren würde. Aber in Manaus, wo der Regenwald die Stadt umschließt und Fußball Religion ist, ergibt das einen perfekten Sinn. Der Peladão geht weiter.
