Unter dem Dach der Deutschen Oper in Berlin entsteht im großen Probensaal das Stück „Wunderkammer“ mit dem Staatsballett Berlin. Zwei Wochen vor der Premiere darf ich bei einer Probe zuschauen.
Die Tänzerinnen und Tänzer, mehr als zwanzig, stehen an einer Stange, wie beim Exercise, dem täglichen Training, aber rücken oft viel enger zusammen, verschmelzen fast zu einem vielgliedrigen Körper. Laut wird der Takt gezählt für die Pliés und Dégagés, das Heben der Arme, Drehen der Köpfe, für Attitüden und halbe Wendungen.
Schnell wird deutlich, dass dies anders ist als ein klassisches Training. Da gibt es kleine Störungen, Verschiebungen der Betonung, schnelle Gewichtsverlagerungen, ein Shiften in der Körperachse, wedelnde Handgelenke, ein Ruckeln des Kinns.
Manchmal sieht es aus, als würde mehrmals im Bewegungsfluss die Stopptaste gedrückt. All diese Hemmnisse verändern den Blick auf das Vertraute. Das kann etwas Komisches und Stolperndes hervorrufen, als ob ein Roboter menschliche Bewegungen nachahmte. Oder wie wenn ein Bild für Momente in Pixel zerfällt, bevor es sich wieder neu zusammensetzt.
Miniaturhafte Abweichungen von der Linie
Der spanische Choreograf Marcos Morau arbeitet mit dem Staatsballett. In konzentrierten 90 Minuten feilt er in dieser Probe an den miniaturhaften Abweichungen von der klassischen Linie, an den Sprüngen der Betonungen, an den Rissen in der klassischen Tradition.
Etwas ist da aus der Spur geraten, hat die Verbindung zum Körper, das Selbstverständliche der ästhetischen Sprache verloren. Als ob sie für kurze Momente aus der Körperbeherrschung hinausgeworfen wären, sinken Einzelne aus der Reihe unvermittelt zu Boden und werden von anderen aufgefangen und hochgezogen.
Diese Momente der Abweichung gehören zur Handschrift von Marcos Morau, ob er sich mit Flamenco und klassischen spanischen Tänzen wie in seinem Stück „Afanador“, das er 2024 mit dem Ballet Nacional de España (noch bis Jahresende auf Arte Concert zu sehen) entwickelt hat, oder mit dem klassischen Ballett beschäftigt.
In Barcelona leitet er seine eigene Compagnie La Veronal, die er noch sehr jung, (1982 geboren) vor zwanzig Jahren gegründet hat. Am Staatsballett Berlin arbeitet er für drei Spielzeiten als Artist in Resident. Er hat viele Auszeichnungen erhalten, im deutschsprachigen Raum wurde er zuletzt zum zweiten Mal zum Choreografen des Jahres gewählt.
Stierkämpfer und Flamenco-Tänzer
„Afanador“ war der Bildwelt des kolumbianischen Fotografen Ruven Afanador eng verbunden, der expressive Bilder von Stierkämpfern oder Flamenco-Tänzern geschaffen hat. Diese Verknüpfung mit den visuellen Künsten zieht sich durch das Werk von Marcos Morau, der selbst Fotografie studiert hat.
Mit seiner Companie La Veronal war er mehrmals nach Berlin eingeladen zum Festival Tanz im August. Da konnte man „Siena“ sehen, das im Setting an ein Museum erinnerte. Über die expressiven und skurrilen Tanzszenen lagerten sich gesprochene, emotional aufgeladene Bildbeschreibungen und so wurde die Vorstellungskraft gleich zweimal getriggert. 2015 choreografierte er mit dem norwegischen Nationalensemble „Edvard“, ein Stück, das auf den Maler Edvard Munch Bezug nahm.
„Wunderkammer“ aber rekurriert nun nicht auf die Kunstgeschichte der Wunderkammern, sondern nimmt sich deren Potenzial heraus, auf das Unerwartete zu treffen. „Wunderkammer“ sei inspiriert „von der Berliner Nacht, von der Zeit der Weimarer Republik bis zu den Kathedralen des Techno“, erläutert Morau nach der Probe.
„Die Nacht kann ein Ort der Freiheit, der Zuflucht, der Diversität sein, die ihre eigenen Regeln hat. Wenn die Welt zusammenbricht, wie in der Weimarer Republik oder in der Gegenwart, ist sie ein Rückzugsort. Aber auch in ihr gibt es Zurückweisungen, wird der Wunsch nach Zugehörigkeit nicht immer erfüllt.“
Kultureller Raum voller Blasen
Das geht auch auf seine Erfahrungen mit der Stadt Berlin zurück. Einerseits kann ihn vieles hier begeistern, aber er hat Berlin in den letzten Jahren auch als einen kulturellen Raum erlebt, in dem vieles in Blasen zerfällt, die sich gegenseitig nur wenig wahrnehmen und sich nach außen elitär abschotten.
„Wunderkammer“ hat Premiere am 31. 10., Komische Oper im Schillertheater
Die Sequenz, die an diesem Tag geprobt wurde, ist ein Teil des Stücks, das auch auf der Bühne die Atmosphäre des Probenraums, des Warming-ups an der Stange beibehält. Langsam entwickelt sich daraus die Show.
Die Bildwelten, die Morau in seinen Stücken zitiert, sind oft mit Kulturgeschichte, manchmal gar mit einem ganzen Traditionsballast aufgeladen. Der Surrealismus und Luis Buñuel standen Pate für die Stücke „Voronia“ und „Sonoma“ von La Veronal, mit durchaus düsteren Visionen.
Der Soundtrack, mitunter sakrale Gesänge oder Glocken, die Kostüme und einzelne Szenen wecken dabei auch Assoziationen an eine stark vom Katholizismus geprägte Welt. In einer solchen sei er zwar erzogen worden, sagt Morau, aber er sieht sie kritisch.
Konzepte von Schuld und Strafe
„Religion kann dich zerstören mit ihren Konzepten von Schuld und Strafe, aber sie ist auch ein großer Erzeuger von Bildern und Imaginationen. Die Geschichte der Kunst ist stark davon geprägt. Obwohl ich kein Gläubiger bin und eine katholische Erziehung genossen habe, erkenne ich, dass ein Großteil meiner Bilder aus jener Vergangenheit stammt, die ich jetzt aus der Distanz betrachte.“
Über die emotionale Kraft ihrer Bilder rutscht sie denn auch in die visuelle Sprache des Choreografen und in einzelne Gesten.
Wenn Morau mit dem Staatsballett probt, in die Details hineingeht, dann bewegt er sich selbst und zeigt mit seinem Körper, was er meint. Dennoch betont er, dass er selbst nicht als Tänzer trainiert sei, keine Tanzausbildung habe. Aber Bewegungen haben ihn von jeher interessiert. Er entwickle seine Choreografien nicht aus dem „muskulären Apparat, sondern aus Augen, Bauch, Herz und Hirn“. Auch im Gespräch ist seine Sprache bildhaft.
Pendeln zwischen den Arbeitsformen
Was der Unterschied der Arbeit mit seiner eigenen Compagnie La Veronal und der mit dem Staatsballett sei, frage ich ihn. „Dream bigger“, ist eine Antwort, beim Staatsballett hat er viel mehr Tänzer:innen, eine größere Bühne, ein größeres Budget. Er liebt aber gerade auch das Pendeln zwischen den beiden Arbeitsformen.
Mit La Veronal sei er einst Underground gewesen, seit mehr als zehn Jahren aber touren sie weltweit. Und ganz verlässt er seine Tanzfamilie aus Barcelona auch bei Gastaufträgen nicht. Ein Teil seines Teams, für Dramaturgie und Kostüme zum Beispiel, kommt mit, um ihn beim Ausarbeiten seiner Bildwelten zu unterstützen.
