
Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) fordert in der „Stadtbild“-Debatte, Probleme offen zu benennen. Er warnt aber, diese allein mit Migration zu verknüpfen und Zuwanderer zum „Sündenbock“ zu machen. Die Abgrenzung des Kanzlers zur AfD erklärt er für glaubhaft.
Andreas Bovenschulte (SPD), 60, ist seit 2019 Bürgermeister von Bremen. Am kommenden Samstag übernimmt der Regierungschef des kleinsten Bundeslandes turnusgemäß für ein Jahr das Amt des Bundesratspräsidenten.
WELT: Herr Bovenschulte, welche Akzente wollen Sie in dem Jahr an der Spitze der Länderkammer setzen?
Andreas Bovenschulte: Das Amt ist zunächst klar umrissen: Sitzungen leiten, den Bundesrat repräsentieren – und damit auch Deutschland in seiner föderalen Vielfalt. In einer Zeit multipler Krisen wird es mir zudem wichtig sein, den Zusammenhalt zu betonen und die gemeinsame Kraft der Länder sichtbar zu machen. Unser Claim „Viele Stärken – ein Land“ bringt das auf den Punkt.
WELT: Stärken? Ist es nicht eher so, dass Deutschland derzeit eher sehr viele Schwächen zeigt?
Bovenschulte: Das sehe ich differenzierter. Fangen wir in Bremen an: Wir haben bei uns zuletzt ein robustes Wachstum gesehen, die Universität ist mit zwei Exzellenzclustern auf gutem Kurs zur Exzellenz-Uni, wir sind „Space City“ mit hoher Kompetenz in der Raumfahrt, die Überseestadt entwickelt sich hervorragend und unsere Häfen nehmen Fahrt auf. Für Deutschland insgesamt gilt: Wir haben weiterhin eine leistungsfähige Wirtschaft, einen starken Sozialstaat, eine lebendige Demokratie. Natürlich gibt es ernsthafte Herausforderungen – aber wir haben eben auch substanzielle Stärken.
WELT: Das ist eine sehr positive Sicht auf die Dinge. Tatsächlich steckt das Land doch seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Und erscheint zudem weder militärisch noch politisch besonders stark.
Bovenschulte: Aber es passiert doch auch was! Das Sondervermögen für Investitionen und der Wachstumsbooster beginnen die Stimmung aufzuhellen, es gibt einen, wenn auch noch etwas schwachbrüstigen, Aufwärtstrend. Anders lässt sich die jüngste Steuerschätzung nicht interpretieren. Und militärisch stärken wir unsere Fähigkeiten gerade erheblich.
WELT: Politisch steht die schwarz-rote Bundesregierung nach einem halben Jahr dennoch fast schon so stark unter Druck wie die Ampel-Koalition nach drei Jahren. Macht Ihnen das keine Sorgen?
Bovenschulte: Das sehe ich anders. Diese Bundesregierung hat innerhalb kurzer Zeit grundlegende wirtschafts- und finanzpolitische Weichenstellungen vorgenommen, zu denen die Ampel überhaupt nicht mehr in der Lage gewesen ist. Aber wir haben es natürlich auch in dieser Koalition mit drei unterschiedlichen Parteien zu tun, die in schwierigen Zeiten richtige Entscheidungen treffen müssen. Dass es da immer wieder auch intensive Debatten und unterschiedliche Auffassungen gibt, das ist völlig normal.
WELT: Warum wirken die Gräben innerhalb von Regierungen heute oft tiefer als die zwischen Regierung und Opposition?
Bovenschulte: Das Parteiensystem ist heterogener geworden – und öffentliche Kommunikation unmittelbarer, schneller und lauter. Jede Differenz innerhalb eines Regierungsbündnisses wird in Echtzeit sofort zur Schlagzeile. Viele Äußerungen, die früher allenfalls in der jeweiligen Lokalzeitung thematisiert worden wären, führen heute zu bundesweiten Erregungs-Wellen. Das heißt nicht, dass es früher keine Konflikte gab; sie waren oftmals nur weniger sichtbar.
WELT: Kann es sein, dass die SPD der Union nach wie vor misstraut und sie im Grunde auf dem Weg in Richtung eines Bündnisses mit der AfD sieht?
Bovenschulte: Zur AfD hat sich Friedrich Merz ja sehr deutlich geäußert. Das nehme ich ihm auch ab, persönlich wie politisch.
WELT: Zuletzt haben sich Union und Sozialdemokraten insbesondere über die „Stadtbild“-Äußerungen des Bundeskanzlers gestritten. Unter anderem hat SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf Merz vorgeworfen, die Gesellschaft mit seinen Aussagen zu spalten. Teilen Sie diese Kritik?
Bovenschulte: Ich tendiere grundsätzlich nicht dazu, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Aber ich finde, dass es die Aufgabe eines Bundeskanzlers ist, die Gesellschaft zusammenzuhalten und sie nicht auseinanderzutreiben.
WELT: Hat Merz nicht ziemlich genau das beschrieben, was viele Menschen ganz real bewegt? Dass sie sich zunehmend unwohl fühlen in vielen Innenstädten?
Bovenschulte: Natürlich gibt es Probleme in unseren Städten – und die kann und muss man auch klar benennen: Armut, Wohnungslosigkeit, Leerstand, Müll, auch Kriminalität an bestimmten Orten. Darauf muss man aber mit konkreten Maßnahmen und Vorschlägen und nicht mit Pauschalurteilen reagieren. Wenn wir die Probleme, die wir in unseren Innenstädten zweifellos haben, allein mit dem Thema Migration verknüpfen, dann machen wir eine bestimmte soziale Gruppe zum Sündenbock. Das spaltet, ist sachlich falsch und trägt nichts zur Lösung bei. Richtig wäre: sagen, wo es konkret hakt – und dann handeln.
WELT: Ihr Innensenator Ulrich Mäurer, ebenfalls Sozialdemokrat, hat die von Ihnen kritisierte Verknüpfung vor gar nicht langer Zeit ebenfalls vorgenommen, als er die Überforderung thematisierte, die die Migration für viele Städte bedeute. Dabei verwies Mäurer unter anderem auf die Zunahme von Straßenraubdelikten, für die insbesondere junge nordafrikanische Männer verantwortlich seien. Was hat diese Debatte in Ihrer Stadt ausgelöst?
Bovenschulte: Wie gesagt: Vor konkreten Problemen darf man nie die Augen verschließen. Und das haben wir auch nicht gemacht. Wir haben eine Sonderkommission „Junge Räuber“ eingesetzt, wir haben zahlreiche Täter in Untersuchungshaft gebracht, die Fallzahlen gehen zurück – wenn auch noch nicht so deutlich wie wir uns das wünschen würden. Und ja, Täter sind häufig junge Männer mit niedrigem sozialem Status und Fluchterfahrung. Das muss man offen benennen und mit Prävention, Sozialarbeit und Repression konsequent darauf reagieren. Aber eine generelle Erzählung „Die Ausländer sind das Problem“, die ist falsch und gefährlich.
WELT: Was tun Sie ganz konkret, damit die Menschen in Bremen sich wieder sicherer und wohler fühlen im öffentlichen Raum?
Bovenschulte: Wir haben die Präsenz von Sicherheitskräften deutlich erhöht, unter anderem mit sogenannten Quattro-Streifen rund um den Hauptbahnhof – dort arbeiten Bundespolizei, Landespolizei, kommunaler Ordnungsdienst und der Sicherheitsdienst der Bahn zusammen. Das hat die Lage spürbar beruhigt. Die Verbesserung der Sauberkeit im öffentlichen Raum spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. Aber das strukturell Wichtigste ist eine positive städtebauliche Entwicklung. Innenstädte werden attraktiv, wenn sie gemischt genutzt sind, architektonisch überzeugen und eine gute Aufenthaltsqualität bieten.
WELT: Politisch wird in Bremen gerade über Ihre Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt von der Linkspartei debattiert. Die hat in der vergangenen Woche Besuch von der Staatsanwaltschaft bekommen, weil ihr – wie zuvor schon der grünen Umweltsenatorin Kathrin Moosdorf – Untreue zulasten der Steuerkasse vorgeworfen wird. Beide sollen ihre Staatsräte bei deren Versetzung in den Ruhestand zu Unrecht begünstigt haben. Frau Moosdorf ist bereits zurückgetreten. Sollte Frau Vogt ihr folgen?
Bovenschulte: Ich habe beide Senatorinnen als integre Persönlichkeiten kennengelernt. Aber natürlich war es wahrscheinlich ein Fehler, die Versetzung der Staatsräte in den einstweiligen Ruhestand so zu kommunizieren, wie sie es getan haben. Ich bin deshalb froh, dass Wirtschaftssenatorin Vogt im Haushaltsausschuss der Bürgerschaft ihre Sicht der Dinge noch einmal öffentlich darlegen kann.
WELT: Aus der Opposition in der Bremer Bürgerschaft werden für den Fall, dass nach der Umweltsenatorin auch die Wirtschaftssenatorin zurücktreten muss, bereits die ersten Rufe nach Neuwahlen laut. Wäre das für Sie auch eine Option?
Bovenschulte: Anders als von der Opposition behauptet, ist der Senat in jeder Beziehung handlungsfähig. Und bleibt es auch.
WELT: Noch einmal kurz zurück zu Ihrer künftigen Rolle als Bundesratspräsident. In den kommenden Sitzungen der Länderkammer wird es unter anderem darum gehen, wer die von der Bundesregierung geplanten Steuererleichterungen für Gastronomie und Pendler finanzieren soll. Die Länder zeigen auf den Bund, der Bund will die Länder zumindest beteiligen. Können Sie da vermitteln?
Bovenschulte: Am Ende wird es eine Einigung geben, davon bin ich überzeugt. Grundsätzlich muss gelten: Wer bestellt, der muss auch zahlen. Bund und Länder tun gut daran, eine grundsätzliche Lösung zu finden und nicht in jedem einzelnen Fall neu zu verhandeln. Sonst dominiert in der Öffentlichkeit doch nur der Eindruck, wir würden uns ständig streiten. Was definitiv nicht stimmt.
Und zu den konkreten Fällen: Die ermäßigte Umsatzsteuer in der Gastronomie sorgt in einem Land wie Bremen für eine erhebliche Belastung der öffentlichen Haushalte – auch wenn ich sie den Betrieben und den Gästen von Herzen gönne. Bei der Pendlerpauschale ist meine Haltung aus Stadtstaatensicht ohnehin klar: Sie ist schädlich, weil sie das Wohnen im Umland und lange Pendelwege attraktiver macht und so Steuerkraft aus den Städten abzieht und unnötige Verkehre befördert.
Ulrich Exner ist politischer WELT-Korrespondent und berichtet vor allem aus den norddeutschen Bundesländern.
