Fatemeh Shamkhani: Die Doppelmoral des iranischen Systems

Die Tochter eines iranischen Regime-Funktionärs hat geheiratet. Im Grunde ist das keine Nachricht, denn ständig heiratet irgendeine Tochter irgendeines iranischen Regime-Funktionärs. Auch Regime-Funktionäre und ihre Familien essen zu Abend, sitzen vor dem Fernseher, putzen sich die Zähne – und feiern Hochzeiten. Und auch von dieser Hochzeit hätte niemand Notiz genommen, hätte Fatemeh Shamkhani, die Tochter von Ali Shamkhani – einst Kommandeur der Revolutionsgarde, Verteidigungsminister und jetzt Topberater von Ajatollah Khamenei – nicht dieses Kleid getragen, ärmellos, rückenfrei, tief ausgeschnittener Tüll und blütenweiße Spitze, außerdem lange, offene Haare. Und das, während die Untertanen dieses Regimes für ein fehlendes oder „nicht ordnungsgemäß“ getragenes Kopftuch eingesperrt und notfalls auch – wie im Fall von Jina Amini – totgeprügelt werden.

Sollen sie doch einfach Kuchen essen

Diese Doppelmoral, diese Heuchelei empörte natürlich. Gerade erst hatte das Regime verkündet, 80.000 neue Sittenwächter allein für Teheran einzusetzen, um „jede Tendenz zum Säku­larismus“ zu bekämpfen. Doch es ist nicht nur die Tatsache, dass Ali Shamkhani seine Tochter in einem Kleid in den Hochzeitssaal führte, für das andere Frauen eingesperrt würden, sondern auch dass die Hochzeit in einem Luxushotel stattfand, während Arbeitslosigkeit grassiert und große Teile der Bevölkerung kaum mehr wissen, wovon sie leben sollen. Dieser krasse Fall von Doppelmoral schaffte es sogar bis in die westliche Öffentlichkeit.

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Man fühlt sich erinnert an Marie Antoinette und den ihr zugeschriebenen Ausspruch „Sollen sie doch Kuchen essen“. Man denkt an die sozialistischen Funktionäre, die natürlich nicht auf Annehmlichkeiten verzichten mussten, an die DDR-Nomenklatura und ihre Bananen, an die Securitate, die in eigenen Geschäften westliche Waren shoppte, während die Bevölkerung hungerte. Doppelmoral ist also bei Weitem keine Spe­zialität des iranischen Regimes. Und Ideologie scheint nicht nur dort oft nicht mehr zu sein als ein Unterdrückungsinstrument. Ob die Funktionäre selbst wirklich an das glauben, was sie predigen, ist am Ende unerheblich für diejenigen, die sie damit drangsalieren. Und die Menschen im Iran werden noch immer drangsaliert, auch wenn das hierzulande kaum mehr wahrgenommen wird.

Ronya Othmann
Ronya OthmannKat Menschik

Allein von Januar bis September 2025 sollen laut einem UN-Bericht über 1000 Hinrichtungen vollstreckt worden sein. Namen, Gesichter und Geschichten bekommen die Opfer des Regimes beispielsweise auf den Seiten der Menschenrechtsorganisation „Hengaw“. „Hassan Saedi, ein 34-jähriger arabischer Bürgerrechtler aus der Provinz Khuzestan, wurde in einer Haftanstalt des Geheimdienstministeriums der Islamischen Republik Iran in Ahvaz unter Folter getötet“, liest man da. Seiner Familie erzählte man, er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Oder: „Die iranischen Behörden haben Saman Mohammadi Khiyareh, einen 34-jährigen kurdischen politischen Gefangenen aus Sanandaj (Sine), nach 16 Jahren Haft im Gefängnis in Karaj heimlich hingerichtet“. Au­ßerdem hat der Oberste Gerichtshof des Iran das Todesurteil von Ehsan Faridi, einem 22-jährigen aserbaidschanischen Studenten, wegen „Kor­ruption auf Erden“ bestätigt.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Die Brutalität des iranischen Regimes ist nicht neu. Sie ist aber, da das Regime im Ausland an Einfluss verloren hat und im Inland spätestens seit den Protesten von 2022 in Bedrängnis geraten ist, regelrecht exzessiv: Die Zahl der Hinrichtungen und Verhaftungen hat seit 2022 stark zugenommen. Menschen im ganzen Land werden unter konstruierten Vorwürfen wie Spionage oder „Abfall vom Glauben“ festgenommen und in zwielichtigen Verfahren verurteilt. Besonders trifft das Angehörige von Minderheiten. Um die Kleidungsvorschriften durchzusetzen, nutzt das Regime neben Sittenwächtern mittlerweile auch Drohnen, eine Denunzier-App und au­tomatische Gesichtserkennung. (Ein Teil der für die Überwachung verwendeten Kameras wurde laut einer ARD-Recherche zwischen 2016 und 2018 von der Firma Bosch in den Iran geliefert.) So mittelalterlich die Ideologie des Regimes auch anmuten mag, so modern sind die Mittel, mit denen es versucht, sie durchzusetzen. Die Diktatur ist im 21. Jahrhundert angekommen.

Neben der Gewalt ist auch die Doppelmoral der iranischen Funktionäre nicht neu. Schon in der Vergangenheit kursierten Bilder von Regime-Söhnen und Töchtern, die ihren Reichtum, der auf Kosten der Bevölkerung angehäuft wurde, in vollen Zügen genossen. Diese Bilder sind nicht von denen zu trennen, die die Menschenrechtsorganisation Hengaw auf den sozialen Medien von den Verhafteten, den Gefolterten und Hingerichteten teilt. In Diktaturen gibt es immer jemanden, der einsperrt, und jemanden, der eingesperrt wird; jemand der foltert und jemand, der gefoltert wird; jemand der tötet und jemand, der getötet wird. Es gibt auch immer irgendeine Tochter irgendeines Regime-Funktionärs, die heiratet. Und auf der anderen Seite jemanden, der beerdigt wird.