Frankfurt Marathon: Lucas Crawaacks Lauf aus der Drogensucht

Wenn ich laufe, dann habe ich das Gefühl, ich bewältige einen Teil meiner Vergangenheit“, sagt Lucas Crawaack. Der Zweiunddreißigjährige läuft nicht weg, sondern hin: zu einem Leben ohne Drogen, ohne Absturz, ohne Rückfall. Crawaack war lange abhängig und rutschte immer tiefer, bis ihm am Ende jede Perspektive fehlte. An diesem Sonntag steht er „clean“ am Start des Frankfurt Marathons. Für den jungen Mann ist das mehr als ein Rennen: Jeder Kilometer bestätigt seine Entscheidung – für sich und für sein neues Leben.

Vor vier Jahren hatte Crawaack gar nichts mehr. Mehrere Entgiftungen waren gescheitert, die Rückfälle in die Drogensucht hatten ihn seiner wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt. Halt fand er bei der Lebensgemeinschaft Die Fleckenbühler, die seit 1984 in Frankfurt und Cölbe bei Marburg Suchtkranke ohne Wartezeit aufnimmt – ohne Therapeuten, mit Selbsthilfe, klaren Regeln und Verantwortung. Es war sein letzter Ausweg – einer, den er mehrmals nehmen musste.

Weltreise statt Studium

Lucas Crawaack kam 1993 in Prag auf die Welt und wuchs in Hamburg auf. Weil sein Vater geschäftlich viel unterwegs war und auch seine Mutter nicht viel Zeit für ihn hatte, wurde er von einer Nanny großgezogen. Bis zu seinem 14. Lebensjahr habe er eine fröhliche und stabile Kindheit erlebt, erzählt Crawaack. Der Tod seiner Nanny sei ein erster Einschnitt in die bis dahin gekannte Stabilität gewesen. Von diesem Zeitpunkt an begleitete er seinen Vater auf dessen Geschäftsreisen. Mal lebten die beiden ein halbes Jahr in Singapur, dann in Auckland in Neuseeland oder in Los Angeles. Der ständige Wechsel von Wohnorten und Schulen prägte seine Jugend. Sein Abitur absolvierte er an einem Internat in Deutschland. Ein Studium der Wirtschaftspsychologie brach er nach einem Semester aus Desinteresse wieder ab, reiste stattdessen zwei Jahre lang mit dem Rucksack durch die Welt.

Während eines längeren Aufenthalts in Island entdeckte Crawaack seine Leidenschaft fürs Schreiben – er verfasste Kurzgeschichten und Poesietexte. Während des folgenden, mit einem Stipendium finanzierten Journalismusstudiums arbeitete er beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in Hamburg. Das erste Kapitel einer Erfolgsgeschichte war aufgeschlagen – so schien es jedenfalls damals.

„Der Performance-Druck war zu hoch“

Doch der Druck sei schon während des Studiums – verbunden mit ersten Aufträgen für seinen künftigen Arbeitgeber – enorm gewesen, sagt Crawaack. Nächtelang wurde durchgearbeitet, Schlaf war Mangelware. „Der Performance-Druck war einfach zu hoch“, erinnert er sich. Der Einstieg in den Journalismus markiert Crawaacks Einstieg in die Drogenabhängigkeit. Viele in seinem Arbeitsumfeld konsumierten Kokain, sodass die Hemmschwelle gering war. „Wie hätte ich sonst auf Dauer 80, 90 Stunden die Woche arbeiten können? Und wenn andere dadurch leistungsfähiger sind, fängst du natürlich auch damit an.“

Doch bei dem weißen Pulver blieb es nicht, wie Crawaack berichtet. Wenig später kam noch Heroin dazu. „Zuerst dachte ich, das sei jetzt nur eine Phase, um mit dem Druck des Studiums klarzukommen, und dass ich ganz einfach jederzeit wieder aufhören könnte.“ Doch aus gelegentlichem Konsum wurde eine ausgewachsene Sucht. Der Student schaffte gerade noch seinen Bachelor – obwohl er gegen Ende des Studiums kaum noch seinen Alltag bewältigen konnte. Immerhin: Nach seinem Abschluss wurde er Auslandskorrespondent in Südostasien.

„Das war mein Todesurteil“, sagt Crawaack heute. In Asien seien Drogen in Massen zu Spottpreisen erhältlich, womit auch das letzte Hindernis vor einem ungebremsten Absturz in die Sucht keines mehr gewesen sei. Zudem war der Arbeitsdruck im Auslandsstudio noch größer. Eineinhalb Jahre war er in Südostasien, und seine Abhängigkeit verschlimmerte sich dramatisch. Mittlerweile wusste auch sein Umfeld darüber Bescheid. Nach Ablauf der zwei Pflichtjahre als Auslandskorrespondent wurde er nicht übernommen, sondern erhielt von seinem Arbeitgeber stattdessen Vorschläge für Therapieangebote. Doch Crawaack lehnte ab.

Ein Leben ohne Struktur und Halt

„Ich dachte mir, Therapie brauche ich nicht. Jetzt, wo ich nicht mehr in diesem Job arbeite, kann ich von allein mit den Drogen aufhören.“ Dabei war die Abhängigkeit zu diesem Zeitpunkt schon zu massiv. In kürzester Zeit habe er seine gesamte Existenz gegen die Wand gefahren, berichtet Crawaack. Ohne Struktur und Halt rutschte der damals Achtundzwanzigjährige komplett ab, verlor Wohnung und Freunde. „Ich habe mich da eigentlich immer nur als Opfer gesehen, das von allen verlassen wurde, dabei war ich der Täter.“

„Ich kann, wenn ich will“: Der Sport hilft Lucas Crawaack, von den Drogen wegzukommen.
„Ich kann, wenn ich will“: Der Sport hilft Lucas Crawaack, von den Drogen wegzukommen.Ben Kilb

Völlig isoliert, wurde er, wie er es nennt, zu einem „richtigen Junkie“. Und um seine Sucht finanzieren zu können, wurde er straffällig. Er bestahl seine Eltern, Freunde und seine Partnerin. „Man kann sich das nicht vorstellen – aber ich war wie fremdgesteuert“, berichtet Crawaack. „Sobald der Entzug einsetzte, hätte ich alles getan, damit es aufhört.“ Schließlich stellten ihn seine Eltern vor die Wahl: Entweder er ändere etwas – oder auch sie brächen den Kontakt ab. „Und da habe ich endlich realisiert, dass ich sofort etwas ändern musste. Ich war psychisch und körperlich bereits in einem sehr schlechten Zustand.“

So kam Crawaack vor vier Jahren auf den Hof der Fleckenbühler Lebensgemeinschaft in Cölbe bei Marburg und begann dort vom ersten Tag an mit dem kalten Entzug. Nach nur einem Jahr verließ er den Hof schon wieder mit der Hoffnung, jetzt wieder bereit für einen Neuanfang zu sein – zunächst mit Erfolg. Crawaack absolvierte eine Ausbildung und Weiterbildung bei der Bundeswehr, die ihm zum ersten Mal wieder Struktur, Sinn und Disziplin vermittelte. Im Bewerbungsverfahren verschwieg er allerdings seine Vorstrafen – und wurde folglich nach deren Bekanntwerden drei Jahre später entlassen.

Rückfall in die Abhängigkeit

Damit sei seine gerade erst zurückeroberte Stabilität weggebrochen, resümiert Crawaack. Aus Verzweiflung begann er ein Masterstudium in Bremen. Doch diese Form der Selbständigkeit wurde ihm zum Verhängnis, wie er rückblickend erkennt. Als dann auch noch seine Beziehung zerbrochen sei, habe er abermals den Halt verloren und wieder ohne Perspektive dagestanden. „Ich dachte: Ich bin doch nicht den ganzen harten Weg gegangen, nur um wieder vor dem Nichts zu stehen. Diese Aussichtslosigkeit war meine Rechtfertigung“, erzählt Crawaack. „Also bin ich losgezogen, um mir Stoff zu besorgen.“

Ein Jahr nach seinem ersten Entzug steckte er wieder im Drogensumpf. Innerhalb von zwei Wochen konsumierte der rückfällig Gewordene Drogen im Wert von etwa 20.000 Euro. „Es war, als hätte ich nie aufgehört.“ Tagsüber sei er ruhelos auf der Suche nach Nachschub gewesen, nachts habe er sich eingeredet, er werde am nächsten Tag aufhören. Doch aus dem Teufelskreis fand sich kein Ausweg. Dieses Mal erkannte Crawaack immerhin selbst rechtzeitig, dass er diesen Prozess nicht allein stoppen konnte und sofort Hilfe brauchte. Auf eigene Initiative hin kehrte er zu den Fleckenbühlern zurück, diesmal nach Frankfurt.

Dort lebt er nun seit neun Monaten und ist dankbar für die Unterstützung und vor allem die Struktur, die diese Form der Gemeinschaft seinem Leben gibt. Er arbeitet jetzt in der Öffentlichkeitsarbeit der Fleckenbühler und hofft darauf, in den nächsten Jahren ein Masterstudium beginnen zu können. Auch Disziplin und Sport helfen ihm mittlerweile in seinem Alltag. Kampfsport war vor seiner Sucht ein großer Teil seines Lebens. Seit Crawaack zum zweiten Mal zu den Fleckenbühlern zurückgekehrt ist, will er seinen von den Drogen zugrunde gerichteten Körper wieder in Form bringen – zum Beispiel beim Laufen.

Das hilft ihm nun, seine Gedanken zu sortieren und Stück für Stück seine Vergangenheit zu verarbeiten. Anders als andere läuft er nicht, um den Kopf frei zu bekommen – im Gegenteil. Das Laufen gibt ihm die Zeit, um über vergangene, oft schlimme Situationen nachzudenken und sie dadurch zu verarbeiten. „Viele sagen, ich laufe vor etwas weg. Doch stattdessen laufe ich auf etwas zu“, sagt Crawaack. „Ich laufe auf die unschönen Dinge und Erinnerungen meiner Vergangenheit zu, denen ich sonst in meinem Alltag aus dem Weg gehe.“

Andererseits hat er bei Läufen wie dem anstehenden Marathon auch Wettkampfgedanken. „Ich mache erst seit ungefähr sieben Monaten wieder aktiv Sport. Dafür bin ich schon wieder sehr fit.“ Das erfüllt ihn mit Stolz. Erst vor zwei Wochen nahm er am Megamarsch, einer 100-Kilometer-Tour durch Frankfurt, teil. Trotz heftiger mentaler und körperlicher Kämpfe schaffte er es, ganze 75 Kilometer zurückzulegen. „Als Süchtiger wird einem immer die Plakette angeheftet, dass man ein Loser sei“, sagt Crawaack. „Solche Wettkämpfe sind der Beweis, dass es nicht so ist. Damit beweise ich mir selbst, aber auch meinem Umfeld, dass ich kann, wenn ich will.“

Crawaack möchte auf der 42-Kilometer-Strecke sehen und erleben, wie weit er es durch Disziplin und Willenskraft geschafft hat. „Ich möchte mir selbst genug wert sein, wieder clean am Leben teilzunehmen.“