EU-Staaten zerstreiten sich über Ukraine-Finanzierung

Der Streit über eine Verwendung der in der EU eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben für Kredite an die Ukraine ist nicht gelöst. Die EU-Staats- und Regierungschefs waren auf ihrem Gipfeltreffen am Donnerstag in Brüssel nicht in der Lage, einen seit Wochen angekündigten politischen Grundsatzkonsens in der Frage zu erzielen. In der Schlusserklärung des Gipfels ist lediglich von einer „Einladung“ an die EU-Kommission die Rede, so schnell wie möglich „finanzielle Optionen“ für die Unterstützung der Ukraine auszuarbeiten.

Das bleibt deutlich hinter dem ursprünglichen Ziel zurück, der Kommission auf dem Gipfel das Mandat zu erteilen, einen konkreten Gesetzesvorschlag zur Nutzung der russischen Guthaben für eine „Reparationsanleihe“ vorzulegen. In der Schlusserklärung heißt es vielmehr, die russischen Guthaben sollten eingefroren bleiben, bis Russland seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine beende und diese angemessen für die angerichteten Kriegsschäden entschädigt habe.

Die Idee der Reparationsanleihe geht auf EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Bundeskanzler Friedrich Merz (beide CDU) zurück. Sie beruht auf der Idee, dass sich die Kommission am Kapitalmarkt verschuldet, die Anleihe aus den russischen Guthaben absichert und als Kredit an die Ukraine weiterreicht. Das Konzept basiert auf der Fiktion, dass die Ukraine die jetzt von der EU gewährten Kredite dereinst werde zurückzahlen können, weil der Kriegsverursacher Russland nach einem (verlorenen) Krieg ausreichend Reparationen an Kiew zahlen und so den Verlust der Zentralbankguthaben ausgleichen werde. Für den Fall, dass dies nicht geschieht, hatte von der Leyen vorgeschlagen, mögliche Ausfälle aus den Haushalten der Mitgliedstaaten abzusichern.

Belgische Bedenken

Die Kommissionschefin und der Bundeskanzler versuchten nach Ende des Gipfels, das für sie enttäuschende Ergebnis herunterzuspielen. Von der Leyen sagte, die Kommission arbeite nun engagiert an anderen Finanzierungsoptionen. Merz sagte, es sei nur verständlich, dass vor allem Belgien, aber auch andere Staaten noch Einwände hätten. Die belgische Skepsis beruht seit je auf der Tatsache, dass der Großteil der russischen Guthaben beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear lagert. Ministerpräsident Bart De Wever gab in Brüssel zu verstehen, dass seinem Land die vorgesehenen Garantien der Mitgliedstaaten im Fall eines Kreditausfalls nicht wasserdicht genug seien. Manche Regierungen erklärten sich in Brüssel aber offensichtlich nicht bereit, solche Garantien abzugeben.

Merz zeigte Verständnis für De Wevers Einwände. „Wenn ich an seiner Stelle wäre, hätte ich dieselben Vorbehalte“, sagte der Kanzler. Das Modell der Reparationsanleihen sei „nicht trivial“ und historisch beispiellos. Alle Mitgliedstaaten müssten die notwendigen Garantien vorhalten. Er habe diese Frage dem Bundeskabinett bereits vorgelegt.

Merz und der Bürokratieabbau

Der Bundeskanzler hatte seinen Schwerpunkt zu Gipfelbeginn nicht auf die von ihm miterfundene Reparationsanleihe gelegt, sondern auf sein anderes Lieblingsthema. Erfreulicherweise und ganz in seinem Sinne stehe das Thema Wettbewerbsfähigkeit ganz oben auf der Tagesordnung des Europäischen Rats, sagte er. Er freue sich sehr, dass mittlerweile 21 Staats- und Regierungschefs „meinen“ Brief an die Präsidentin der EU-Kommission und den Ratspräsidenten unterschrieben hätten und sähen, dass „wir uns noch intensiver mit der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beschäftigen müssen“. Die EU müsse jetzt „sehr viel schneller als in den vergangenen Wochen“ arbeiten, um „Bürokratie zurückzubauen und Wettbewerbsfähigkeit auszubauen“.

Merz‘ Appell hatte einen Adressaten: das Europäische Parlament, das am Vortag mit knapper Mehrheit gegen einen Gesetzesvorschlag gestimmt hatte, der den Bürokratieabbau zum Ziel hat. Die Ablehnung der in dem Paket enthaltenen Abschwächung des EU-Lieferkettengesetzes durch eine Parlamentsmehrheit sei „inakzeptabel“ und eine „fatale Fehlentscheidung, die korrigiert werden muss“. Man müsse jetzt mit den Fraktionen im Parlament reden und sehen, wie das gehe. „Aber das kann so nicht bleiben.“

Merz wiederholte all diese Argumente nach dem Gipfel. Auf seinen Vorschlag sei zudem beschlossen worden, einen Sondergipfel im Februar ausschließlich der Wettbewerbsfähigkeit zu widmen. Freilich spielte diese am Ende eine nachgeordnete Rolle. Schon früh am Abend billigten die Staats- und Regierungschefs die vorformulierte Schlusserklärung, in der es unter anderem hieß, die EU müsse Verwaltungs-, Regulierungs- und Berichtspflichten für Unternehmen und öffentliche Verwaltungen dringend drastisch reduzieren. Merz mochte das als Bestätigung für seine Linie sehen. Für die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Europäischen Parlament hatten die Staats- und Regierungschefs aber keine Ratschläge.

Wenig Bewegung beim Klimaschutz

Anders als erwartet kamen die Staats- und Regierungschefs auch in der Debatte um ein Klimaziel für das Jahr 2040 nicht weiter. Hier standen sich die ehrgeizigen Skandinavier, Spanier und Portugiesen den bremsenden Ländern Polen, Ungarn und Rumänien gegenüber. Am Ende wird es wohl auf eine Einigung auf eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 90 Prozent verglichen mit dem Jahr 1990 hinauslaufen, wie von der Kommission vorgeschlagen. Allerdings gibt es weiter Streit um die Frage, wie viele Klimaprojekte in Drittstaaten auf das Ziel angerechnet werden können sollen. Solche Gutschriften könnten etwa für den Entzug von CO2 aus der Atmosphäre gewährt werden. Ländern wie Frankreich reichen die von der Behörde vorgeschlagenen drei Prozentpunkte „Flexibilität“ nicht. Die Kommission gesteht zwar ein, dass Klimaschutz solcher Art außerhalb Europas deutlich günstiger wäre, argumentiert aber, es gebe nicht genügend geeignete Projekte. Merz kommentierte nur: „Der Europäische Rat unterstützt die Kommission auf ihrem Weg“. Klimaschutz-skeptische Staaten schafften es allerdings, eine Forderung nach einer Überprüfungsklausel in die Abschlusserklärung hineinzuverhandeln.

Auch ein Zwischenziel (NDC) für das Jahr 2035 findet in dem Papier keine Erwähnung. Die EU hätte es eigentlich schon vor Monaten beim Klimasekretariat der Vereinten Nationen einreichen sollen. Knapp drei Wochen vor der 30. UN-Klimakonferenz im brasilianischen Belém steht die EU weiterhin mit leeren Händen da. Eine Einigung soll nun bei einem außerordentlichen Treffen der Umweltminister am 4. November getroffen werden.

Kein Aus vom Verbrenneraus

Das von Kanzler Merz immer wieder lautstark geforderte „Aus vom Verbrenneraus“ wird in der Abschlusserklärung nur in einem Satz erwähnt. Darin begrüßen die Staats- und Regierungschefs die Ankündigung der Kommission, bis zum Jahresende Vorschläge zur Überarbeitung der Flottengrenzwerte vorzulegen, und weisen auf die Rolle von Technologieneutralität und „european content“ hin. Der slowakische Regierungschef Robert Fico hatte zu Beginn des Gipfels erklärt, er sei sich nach einem bilateralen Treffen mit Merz einig gewesen, dass „dieses Verbot“ überarbeitet werden solle. Frankreich und Spanien warnen hingegen davor, es aufzuweichen.

Die Vorschläge der Kommission zur Senkung der Preise im europäischen Emissionshandel für Verkehr und Gebäude (ETS2), der 2027 eingeführt werden soll, begrüßte Merz ausdrücklich, während die Gesamtheit der Gipfelteilnehmer sie allenfalls „zur Kenntnis“ nahm.

Auch eine europäische Reaktion auf die chinesischen Exportkontrollen kritischer Rohstoffe spielte auf dem Gipfel nur am Rande eine Rolle. Die Staats- und Regierungschefs forderten die Kommission auf, „alle wirtschaftlichen Instrumente der EU“ einzusetzen, um „unlautere Handelspraktiken zu verhindern und ihnen entgegenzuwirken“. Sie betonten zudem die Notwendigkeit, europäische Technologiekapazitäten aufzubauen und die Bezugsquellen für kritische Rohstoffe zu diversifizieren, um weniger abhängig von China zu werden. Die Zuständigkeit für Handelsfragen liegt bei der Kommission, nicht bei den Mitgliedstaaten.

Für Verwirrung sorgte Merz mit der Behauptung, die Staats- und Regierungschefs hätten auch die Verabschiedung des Freihandelsabkommens mit den Mercosur-Staaten beschlossen. „Wir haben darüber abgestimmt“, sagte er. „Alle waren dafür.“ Das Abkommen müsse jetzt nur noch vom Europaparlament „ratifiziert“ werden. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron äußerte sich anders. Zwar sagte auch er, man sei in den Verhandlungen über „Vorkehrungen“ für die Landwirtschaft gut vorangekommen, diese seien aber noch nicht beendet. Die nationalen Parlamente, die den Vertrag alle ratifizieren müssen, haben das noch nicht alle getan. Die Abstimmung, von der Merz sprach, bezog sich möglicherweise darauf, dass sich alle Staats- und Regierungschefs dafür aussprachen, das Abkommen mit den Mercosur-Staaten im Dezember zu unterzeichnen.