DFB-Frauen in der Nations League: Sie müssen schon wieder improvisieren – Sport

Bei jedem Spiel schafft sie das nicht, aber dieses eine wollte sich Sjoeke Nüsken dann doch noch mal ganz in Ruhe anschauen: Europameisterschaft in der Schweiz, Viertelfinale gegen Frankreich, Deutschland gewinnt 6:5 nach Elfmeterschießen, ein Epos von einer Fußballpartie. Nüsken war so nah dran wie sonst nur 21 (wobei, nach einer Viertelstunde nur 20) andere Menschen auf diesem Planeten. Und trotzdem sind ihr manche Momente durchgerutscht. Dass Frankreich zwei Tore wegen Abseits nicht anerkannt bekam, zum Beispiel. „Das waren alles so Dinge … wir waren irgendwie so im Tunnel und so im Fokus, dass wir das gar nicht alles realisiert haben“, erzählte Nüsken am Mittwoch.

Grundsätzlich habe sie aber schon noch „sehr, sehr viele Szenen“ dieser Partie im Kopf. Ins kollektive Gedächtnis haben sich vorrangig zwei eingebrannt: Wie Kathrin Hendrich in der 13. Minute die Französin Griedge Mbock Bathy an den Haaren zog und mit Rot vom Platz musste, gab früh den Anstoß zur folgenden Dramatik. Und dann dieser verunglückte Kopfball von Janina Minge in der 103. Minute, den Ann-Katrin Berger mit einer der spektakulärsten Paraden der deutschen Torwartgeschichte wegschaufelte. „Dass der am Ende so glücklich vom Tor weggehalten wurde, ist etwas ganz Besonderes, das ich niemals vergessen werde“, sagte Minge, als sie neben Nüsken auf ihre Erinnerungen angesprochen wurde. „Und wofür ich Anne mein Leben lang dankbar sein werde.“

Berger, die Hauptdarstellerin des Abends im Basler St.-Jakob-Park, wird allerdings fehlen, wenn nun das Wiedersehen der beiden Teams ansteht. Berger musste kurz vor der Kadernominierung aufgrund einer Knieblessur absagen. Die Französinnen mögen da erleichtert aufgeatmet haben, auf deutscher Seite jedenfalls zeigt allein diese Personalie die veränderten Voraussetzungen vor dem Halbfinal-Hinspiel der Nations League an diesem Freitag (17.45 Uhr, ARD). Die Bedingungen sind ganz anders, als sich Bundestrainer Christian Wück das für den ersten Auftritt seit der EM vorgestellt hatte. Die Liste der Verletzten ist gewachsen und hat dazu geführt, dass ursprüngliche Überlegungen verworfen werden mussten.

Die Zehnerposition wurde bei der EM-Analyse als Schwachstelle ausgemacht

Ohne Berger wollte Wück ein „offenes Rennen“ im Tor, was irgendwann ohnehin auf ihn zukommen wird, weil seine 35 Jahre alte Stammkeeperin ihre Zukunft im DFB-Tor über dieses Jahr hinaus offengelassen hat. Doch dann sagte Bayern Münchens Ena Mahmutovic wegen einer Sprunggelenksverletzung ab, gegen Frankreich dürfte Stina Johannes vom VfL Wolfsburg zum Zug kommen. Die 25-Jährige hat deutlich weniger internationale Erfahrung als Berger, es wäre auch ihr erst viertes Länderspiel. Damit hätte sie allerdings immer noch vier DFB-Einsätze mehr als die aktuellen Alternativen Laura Dick (TSG Hoffenheim) und Rafaela Borggräfe (FC Liverpool). In der Abwehr fallen aus dem EM-Kader Sarai Linder, Sophia Kleinherne und Rebecca Knaak aus, wie auch Stürmerin Giovanna Hoffmann, ihr riss im Oktober das Kreuzband.

Auch Lena Oberdorf erlitt am Sonntag diese schwere Knieverletzung und wird dem Nationalteam monatelang fehlen. Dabei hatte sie sich beim FC Bayern gerade zurückgekämpft nach ihrem im Juli 2024 erlittenen ersten Kreuzbandriss. Auf Oberdorf hatte sich der Bundestrainer besonders gefreut, ihre Leistungen versprachen wieder jene Körperlichkeit und strategische Übersicht im Zentrum, die dem Nationalteam ohne Oberdorf in dieser Form fehlen. Weil die EM für die 23-Jährige noch zu früh kam, hat Wück in Nüsken und Elisa Senß aber ohnehin schon andere auf der Sechs erprobt. Zudem ist Minge beim VfL Wolfsburg von der Innenverteidigung ins defensive Mittelfeld gerückt, die Vize-Kapitänin könnte hier auch im Nationalteam eine Option sein.

Was bringt die Zukunft? Bundestrainer Christian Wück (hier während der EM in der Schweiz) startet mit dem Nationalteam diese Woche in die neue Länderspielsaison.
Was bringt die Zukunft? Bundestrainer Christian Wück (hier während der EM in der Schweiz) startet mit dem Nationalteam diese Woche in die neue Länderspielsaison. (Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

In jedem Fall wird Wück seine Elf verändern, auch mit dem langfristigen Blick auf das nächste Turnier – die WM 2027 in Brasilien, für die sich seine Auswahl noch qualifizieren muss. Als es um die Erkenntnisse aus der EM-Analyse ging, hatte der 52-Jährige bereits unabhängig von der Verletztenliste eine Systemumstellung in Aussicht gestellt. Die Zehnerposition, zuletzt besetzt von Laura Freigang (Eintracht Frankfurt) und der nun für Oberdorf nachgerückten Linda Dallmann (FC Bayern), werde generell überdacht. Im 4-2-3-1-System wurde die Position als Schwachstelle ausgemacht, im ganzen Turnier sei kein finaler Pass von Freigang oder Dallmann im Strafraum gelandet. „Wir haben im Verlauf der EM in der Offensive nicht die Räume gefunden, die für die Zehnerposition wichtig gewesen wären“, sagte Wück und bezog sich dabei auf die Zehn selbst wie auch auf die Zulieferinnen.

Überhaupt zeigte sich der Bundestrainer unzufrieden mit der Offensivleistung, vorwiegend an Effizienz mangelte es ihm verständlicherweise. Genauso steht Kreativität auf der Vermisstenanzeige. Damit sich die Stabilität verbessert, wechselt Wück womöglich auf ein 4-3-3-System und rotiert. Denn es fehlen zwar einige, so manche Spielerin ist aber zurückgekehrt. Was auch die bei der EM so präsente Baustelle in der Defensive betrifft. Kapitänin Giulia Gwinn wird wieder als rechte Außenverteidigerin auflaufen, was ihre Vertretung Carlotta Wamser zur Jobsuchenden macht. Die Überlegungen scheinen in die Richtung zu gehen, Wamser auf den rechten Flügel zu ziehen, wo eigentlich Jule Brand wirbelt – die dann vielleicht in die Mitte wandert. „Wir haben unheimlich viele spannende Spielerinnen“, sagte Wück: „Darauf lässt sich aufbauen.“

Dass sie improvisieren können, haben die Deutschen im Sommer gezeigt, und mit ihrer Mentalität als Reaktion auf die wiederkehrenden Rückschläge imponiert. Aber wie groß die fußballerische Lücke gerade im Vergleich zu Halbfinal-Gegner Spanien klaffte, das ist trotz all der Euphorie doch als eindeutiges Manko und große Aufgabe für die Zukunft hängengeblieben. Schon beim ersten Kontakt und im Passspiel, benannte Wück, müssten sich seine Spielerinnen verbessern. Und, apropos, gegen mehr Mut und Cleverness wie bei den Spanierinnen hätte niemand etwas einzuwenden.

Auch da hat sich eine Szene eingebrannt: Wie Aitana Bonmatí eine Lücke zwischen Pfosten und Torhüterin Berger zum Siegtor nutzt. Vielleicht kommt es schon in einem Monat zum Wiedersehen bei der Nations League, im Spiel um Platz drei oder im Finale. Vielleicht ist Ann-Katrin Berger dann zurück. Die hätte noch eine Revanche ausstehen.