
Der Sommer, in dem der Britpop noch einmal außergewöhnlich schön erblühte, hat sich geneigt – aber nach dem Comeback-Werk „More“ von Pulp, welches das Zeug zum Album des Jahres hat, nach dem ersten Teil einer Wiedervereinigungstournee von Oasis und während manche sich fragen, was das auf Februar verschobene Album von Robbie Williams außer seinem Titel mit Britpop zu tun haben wird, stand eine wichtige Veröffentlichung in dieser Reihe noch aus, die nun vorliegt.
Sie passt programmatisch zum Herbst und taugt für eine blaue Teestunde: „Rainy Sunday Afternoon“ heißt das neue Album von Neil Hannon, der 1989 die Band The Divine Comedy gründete und 1996, also kurz nach den ersten großen Erfolgen von Blur, Oasis und Pulp, mit „Casanova“ ein weiteres grundlegendes Britpop-Werk vorlegte: eines, das den bei den Kollegen latent vorhandenen Ästhetizismus ironisch auf die Spitze trieb.
In Endzeitstimmung noch singen
Hannons Songs wirkten von Anfang an verspielter und literarischer als die der anderen Genannten, aber hatten auch Berührungspunkte mit der Intellektualität von Pulp oder der Endzeit-Stimmung von Blur kurz vorm Jahrtausendwechsel. Während Blur vom „End of a Century“ sangen, nannte Hannon ein Album „Fin de Siècle“, und in die Tradition des von Joris-Carl Huysmans oder Oscar Wilde beschriebenen Dandytums passten seine lyrischen Figuren ebenso wie seine Auftritte. Der stets verschmitzt und bisweilen knabenhaft wirkende Hannon, geboren 1970 im nordirischen Derry, schien sich in seinen Kompositionen aus der Realität herauszuträumen, auch jener der euphemistisch oft nur „The Troubles“ genannten, aber blutigen jahrzehntelangen Konflikte in und um Belfast, die er miterlebte.
Seine Songs handeln von Paris und London, von der Riviera und von schwindender Schönheit am Genfer See, so wie in der großartigen Ballade „An English Lady of a Certain Age“. Die Musik hatte schon immer starke Einflüsse aus Renaissance und Barock, entwickelte oft etwas Reigenhaftes und wurde teils in orchestraler Besetzung aufgeführt (wunderbar festgehalten, auch filmisch, auf „Live at the Palladium“, 2004).
Als „kammermusikalischer Pop“ wurde das oft verbucht, in dieser Zeitung auch mal kritischer als „Klunkerpop“. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen – und trotzdem haben einen die von Hannon ersonnenen Melodien und Arrangements meist sofort am Haken. Auch auf „Rainy Sunday Afternoon“, das er symbolträchtig in den Abbey Road Studios aufgenommen hat, ist das so. Spätwerkscharakter hatten ja auch schon die frühreifen Dekadenz-Alben der Neunziger – hier aber nun wandert der lyrische Fokus auch auf das eigene fortgeschrittene Leben.
Kein Verständnis für Achilles
„The Last Time I Saw the Old Man“ ist ein zartes Stück über einen Besuch beim Vater, der Anzeichen von Demenz aufweist und sehr zerbrechliche Hände hat. Die Musik wogt chromatisch düster hin und her, während Hannons Stimme eine Melancholie ausstrahlt, die auch etwas Anklagendes hat, wie es sich für große Chansons gehört. „His eyes looked upon landscapes afar / Full of laughter and forgetting / As we left, the sun was setting“: Im Text lässt Milan Kundera, im Tonfall Udo Jürgens grüßen.
Beim viel lebhafteren Lied „The Invisible Thread“, das von einem unsichtbaren Faden zwischen Eltern und Kindern handelt, der hoffentlich nie reißt, singt Hannons eigene Tochter mit. Das Musicalhafte daran überrascht nicht, wenn man weiß, das der Tausendsassa jüngst auch Lieder für den Musicalfilm „Wonka“ (2023) mit Timothée Chalamet geschrieben hat; früher hatte er auch schon welche für die irische Klamaukserie „Father Ted“ komponiert.
Im Kontrast dazu stehen ernstere und überpersönliche Stücke wie „Achilles“, das auf historische und aktuelle Kriege hinzudeuten scheint und einem kaum wieder aus dem Ohr gehen will. Das lyrische Ich zeigt darin sein Unverständnis gegenüber dem Heldentod.
Ganz im Sinne des „Victory for the Comic Muse“, den Hannon schon vor einiger Zeit erklärt hat, ist das beste Stück auf dem neuen Album eine Art parodistische Rumba über besondere Dekadenz: nämlich in „Mar-a-Lago by the Sea“. Da gibt es goldene Toiletten und „Cheating losers on the greens / Swapping wives for beauty queens / Making turgid wedding speeches / Entertaining fascist leeches“. Wer mag denn an so einem Ort wohnen?
The Divine Comedy: „Rainy Sunday Afternoon“. PIAS/Divine Comedy Records (Rough Trade)