
Es sei vorweg gesagt: Dies ist ein hinreißendes Buch, obwohl (oder gerade weil?) es sich nicht um die großen Fragen unserer Zeit schert und keinen Aktualitätswert aufweist. Oder doch: aber einen unvergänglichen, denn in diesem Roman dreht sich alles um Literatur, um Lesen und Schreiben und Bücher. Und um den Betrieb, der um diese Bücher gemacht wird: Lesungen, Literaturfestivals, Buchmessen, Podiumsdebatten, literarische Quartette, Preise.
Das ist die Ausgangssituation: Anne Serre begibt sich auf den Weg von ihrer Pariser Wohnung zum Bahnhof Montparnasse, um dort den TGV nach Montauban zu erwischen, wo sie zu einem Literaturfestival eingeladen ist.
Sie ist am Abend zuvor wie immer bei solchen Einladungen versucht gewesen, sich unter irgendeinem Vorwand zu drücken (beliebt ist der Tod der Mutter, der allerdings schon Jahrzehnte zurückliegt, oder die schwere Erkrankung ihres Sohnes, den die kinderlose Autorin nicht hat), aber sie sieht in der Mehrzahl der Fälle doch ein: „Ich schreibe, also muss ich öffentlich auftreten, heutzutage ist es nicht möglich, zu schreiben, ohne öffentlich aufzutreten. Und so gehe ich in acht oder neun von zehn Fällen tapfer hin, wie ein Soldat oder besser wie eine Schülerin, denn daran erinnert mich der frühe Morgen: an die unendlich ferne Zeit, als ich ‚die Schule besuchte‘ und auf die Straße trat, als es noch nicht richtig Tag war.“
Autoren auf der Bühne
Wie alle Schriftstellerinnen weiß Serre natürlich, dass der Autor oder die Autorin auf der Bühne ein fundamental anderes Wesen ist als die Person, die schreibt. Jener Autor auf der Bühne, der Autor zum Anfassen, ist kein Schriftsteller, sondern eine Figur, die eine festgelegte Rolle beim literarischen Event spielt. Da „treiben wir alle Unsinn“, weiß Serre, „treten öffentlich auf, halten uns für Rockstars“. Was um so absurder ist, als der Schriftsteller nie denselben Appeal haben kann wie selbst ein mittelmäßiger Rockmusiker, was nicht an der Person, sondern am Metier liegt.
Anne Serre: „Einer reist mit“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Berenberg Verlag, Berlin 2025, 160 Seiten, 24 Euro
Um sich eine Enttäuschung dieser Art zu ersparen, erzählt Serre, wie sie zwar zu einer Lesung des katalanischen Autors Enrique Vila-Matas in Paris gegangen ist, von dem hier noch ausführlicher die Rede sein wird, die Einladung der Literaturhauschefin zum gemeinsamen Essen danach aber ausgeschlagen hat: „Ich wollte Vila-Matas nicht treffen, ich wollte ihn lesen.“
Das tut sie auch während der siebenstündigen Zugfahrt nach Montauban, die sich zieht, weil sich Personen auf den Gleisen tummeln. Zwischendurch wechselt sie ein paar Worte mit ihrer deutschen Kollegin Brigitta, die zum selben Festival fährt, die zum Glück aber nicht im selben Wagen des TGV sitzt, denn Anne Serre zieht es vor, beim Zugfahren allein zu sein.
Brigitta hat gerade den Roman „Die Welt von tomorrow“ veröffentlicht und gehört ebenso zu der nicht unerheblichen Zahl erfundener Autorinnen und Autoren, die dieses Buch bevölkern (mitsamt ihren erfundenen Zitaten), wie Herta von Rett oder der Schweizer Jungautor Pierre Pier, Verfasser des Romans „So herrliche Jahre“. Zu diesen gesellen sich allerdings in ebenfalls großer Anzahl reale Autoren, aus der Literaturgeschichte oder aus der Jetztzeit.
Die Lust am Text
Von Letzteren nimmt Vila-Matas eine Sonderstellung ein, weil er im selben Zug mitfährt, auf Platz No. 58: zumindest in der Imagination der Autorin. Er wird in Montauban sogar das Hotelzimmer direkt neben der Autorin bewohnen. Diesem imaginären Mitreisenden verdankt das Buch auch seinen Titel; der Originaltitel lautet „Voyage avec Vila-Matas“.
Mehrfach ist Serre versucht, auszusteigen, unter anderem in Bordeaux, wo sie geboren ist, um dort vielleicht die Familiengeschichte zu rekapitulieren, die durch den frühen Tod der Mutter und andere familiäre Unglücksfälle geprägt ist, nicht nur im Roman, sondern auch in der Realität.
Anne Serre erzählt in diesem Buch von sehr ernsten Dingen, angefangen mit der Liebe zur Literatur, aber sie tut das mit einer Heiterkeit, einer Leichtigkeit und sprachlichen Eleganz, wie ich sie als Leser selten genossen habe. Die Lust am Text schlechthin. Das liegt zweifelsfrei an der ebenso heiteren und eleganten Übersetzung von Patricia Klobusiczky, der man an keiner Stelle anmerkt, dass es sich um eine Übersetzung handelt, sondern die einfach das deutsche Original ist.
Nach gut achtzig Seiten, inzwischen ist das Festival vorbei, es gibt eine rauschende Party im Hotel und plötzlich taucht auch noch Anna Magnani im Foyer des Hotels auf, „und alle Welt verstummte“, schlüpft Anne Serre in die Haut von Vila-Matas und präsentiert als Ich-Erzählung den Teil „Vila-Matas leitet Ermittlungen ein“. Dem katalanischen Autor nämlich wird von einer ihm unbekannten Frau namens Rosanna Carriera per Mail mitgeteilt, er sei der Vater ihrer Tochter und diese, bald zwanzig, freue sich sehr, ihn kennenzulernen. Es lässt sich denken, dass die nun folgenden Seiten voller zum Teil komischer Verwicklungen sind und am Ende nichts aufgeklärt wird.
Überglücklich, in Paris zu sein
Verblüffend ist aber vor allem, dass, wer Vila-Matas gelesen hat (etwa den Roman „Montevideo“, ebenfalls voller Verwicklungen), feststellen muss, dass Anne Serre die bessere Vila-Matas ist. Das Pastiche übertrifft in diesem Fall das Original, was nicht zuletzt daran liegt, dass bei aller galoppierenden Fiktion Anne Serres Sprache allzeit gebändigt und konzis ist, während Vila-Matas zuweilen zur Geschwätzigkeit neigt.
Verlassen wir die Autorin nach dem Abschluss der Reise, „überglücklich, gleich wieder in Paris zu sein, dort wieder die Taxis, die Sprache, die Luftverschmutzung vorzufinden, die eiligen Schritte aller Passanten …“ Anne Serre ist mit ihrem Debüt „Les Gouvenantes“ 1992 auf Anhieb bekannt geworden. Das Buch liegt ebenfalls in deutscher Fassung von derselben Übersetzerin im selben Verlag vor.
Da nun aber – von den aktuellen Nachrichten aus dem Literaturbetrieb die allertraurigste – der Berenberg Verlag im Frühjahr 2026 seine Tätigkeit einstellt, ergeht hier am Ende die Aufforderung, dieser Autorin, die bisher 18 Bücher publiziert hat, eine neue deutsche Heimat zu geben. Und an die Leserinnen und Leser der Hinweis, dass sie sich um sehr viel Lust am Text bringen, wenn sie dieses Buch nicht lesen.