Spionage-Jugendroman: Plötzlich Fahnenappell | taz.de

Wie können die historischen Erfahrungen des Unrechtsregimes der DDR auch die nachfolgenden Generationen zuverlässig erreichen? In „Das falsche Leben“ unternimmt Maja Nielsen einen bemerkenswerten Versuch. Der packende Jugendroman der Hamburger Schriftstellerin erzählt von Verrat und Widerstand vor dem Hintergrund eines wahren Spionagefalls im geteilten Deutschland 1979.

Sechzehn Jahre ist Thomas Raufeisen alt, als sein Vater eines Nachmittags die Familie in Hannover eilig zu einer Reise in die DDR drängt: der Großvater auf Usedom läge im Sterben. Doch schon bald nach dem Grenzübertritt müssen Thomas und sein älterer Bruder Michael den wahren Grund ihres überstürzten Aufbruchs erfahren: Zweiundzwanzig Jahre lang hatte der Vater unbemerkt im Westen als Abteilungsleiter eines Energieunternehmens für die DDR spioniert.

Nach dem Überlaufen eines Geheimdienstmitarbeiters droht seine Tarnung aufzufliegen. Die Stasi ruft Armin Raufeisen mitsamt seiner Familie zurück in den Osten – und nichts bleibt, wie es war.

Jugenderlebnisse in der DDR

„Das falsche Leben“ handelt von Thomas Raufeisens erschütternden Jugenderlebnissen bis zu seiner Ausreise aus der DDR – erst als Lehrling im VEB Autotrans, dann in Untersuchungshaft in Hohenschönhausen oder im Hochsicherheitsgefängnis Bautzen II. Der Roman schildert aus der Perspektive des gleichnamigen Protagonisten hautnah und intensiv jene Spirale einschneidender Ereignisse, die auf den unfreiwilligen Umzug in die DDR folgt.

Für ihren 2024 veröffentlichten Roman „Der Tunnelbauer“ über einen DDR-Fluchthelfer wurde Maja Nielsen mit dem „Buxtehuder Bullen“ für das beste Jugendbuch 2025 ausgezeichnet. Auch in „Das falsche Leben“ bleibt die Autorin dem dokumentarisch-fiktionalen Ansatz und ihrer Vorliebe für zeitgeschichtliche Themen treu. Die atmosphärisch dichte Handlung ergänzt sie unaufdringlich, aber faktenreich mit Hintergrundwissen. Ein Glossar im Anhang liefert zusätzliche Informationen zu Personen, Orten und Begriffen, die im Buch erwähnt werden.

Wütend realisieren die Brüder sehr bald, was Vaters Spionage für sie bedeutet

Wütend und ohnmächtig realisieren die Brüder Raufeisen sehr bald, was Vaters Spionage für sie bedeutet. Eindeutig geben die zwei für sie zuständigen Stasi-Offiziere der Familie zu verstehen, dass nun andere über ihre Zukunft entscheiden und die Rückkehr nach Hannover außer Frage steht. „Wir sind im falschen Film“, sagte Micha an diesem Nachmittag bestimmt sieben Mal. „Das kann alles nicht wahr sein.“

Deutsch-deutsche Verhältnisse

Ungläubig beobachten, kommentieren und vergleichen die Jugendlichen aus Hannover die neue Lebensrealität mit ihrem vertrauten Alltag in der BRD. Aus dieser kontrastreichen Dramaturgie entsteht für Leser aus der Distanz ein lebendiges Bild der historischen deutsch-deutschen Verhältnisse.

In Ostberlin wird den Neuankömmlingen von der Staatssicherheit eine komfortable Wohnung in den Hochhäusern an der Leipziger Straße zugeteilt. Thomas soll dort die Oberschule besuchen. Doch beim Fahnenappell, unter FDJ-Hemden oder im Staatsbürgerkundeunterricht fühlt er sich fehl am Platz.

Das Buch

Maja Nielsen: „Das falsche Leben“. Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2025, 192 Seiten, 15 Euro. Ab 14 Jahren

Verändert blickt er auf die selbstverständlichen Freiheiten seines früheren Lebens. Nur war sein Vater vor zweiundzwanzig Jahren einen verhängnisvollen Pakt eingegangen. Nachdem er den Ausreiseantrag für die Familie gestellt hatte, gerieten die Raufeisens ins Visier der Staatssicherheit …

Widersprüche des DDR-Regimes

Besonders dank ihrer unkonventionellen Nebenfiguren wie dem Großvater auf Usedom oder Thomas‘ Lehrlingskollegen Ronny gelingt es Maja Nielsens Erzählung, auch die Widersprüche und Schattierungen des Regimes der DDR abzubilden.

Während Thomas schnell in Konfrontation mit dem System gerät, erscheint Ronny ganz zufrieden in der DDR. Ohne Scheu besucht der autobegeisterte Freund mit seiner kleinen Schwester Thomas zu Hause in dem berüchtigten „Stasi-Hochhaus“. Dann spielen sie zusammen gerne eine Partie des verbotenen „Monopoly“ oder blättern in Micky-Maus-Heften und Zeitschriften aus dem Westen. Auf diese Freunde kann sich Thomas verlassen.