
Der Krieg im Gazastreifen ist – vielleicht – vorbei. Aber was danach kommt, scheint ebenso unklar wie die Antwort auf die Frage, wer in diesem Krieg Gewinner ist und wer Verlierer. Unterschiedliche Antworten lauten: Benjamin Netanjahu habe den Krieg verloren, weil Donald Trump ihn dazu zwang, ihn zu beenden. Die Hamas habe verloren, weil sie keinen sofortigen und kompletten israelischen Truppenabzug durchsetzen konnte. Die Europäer und die Vereinten Nationen hätten verloren, weil sie im weiteren Prozess außen vor bleiben könnten.
Aber all das könnte sich auch noch ins Gegenteil verkehren, aus Gewinnern könnten Verlierer werden und andersherum. Vor allem die Hamas arbeitet mit aller Kraft daran, sich eine günstige Ausgangsposition für die Zukunft zu sichern.
Sie verlor dabei keine Zeit: Schon wenige Stunden nach dem Einsetzen der Waffenruhe am vorvergangenen Freitag schwärmten Bewaffnete in die Straßen des Gazastreifens aus, aus denen sich die israelischen Truppen gerade erst zurückgezogen hatten. Kräfte der Polizei und der Geheimdienste der Hamas, aber auch Bewaffnete ohne Uniform bezogen in Gaza-Stadt oder Khan Yunis Stellung, errichteten Checkpoints, durchsuchten Fahrzeuge, nahmen Menschen fest. Mindestens 7000 Hamas-Kräfte sollen in den ersten drei Tagen nach Beginn der Waffenruhe stationiert worden sein.
Das Innenministerium der Hamas teilte mit, es sei dabei, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und gegen das Chaos vorzugehen, das Israel verbreitet habe. In der Praxis hieß das vor allem: Die Hamas begann, Jagd auf ihre Gegner innerhalb des Gazastreifens zu machen. In den zwei Jahren nach Kriegsbeginn am 7. Oktober 2023 haben sich dort bewaffnete Gruppen etabliert. Sie nutzten das Vakuum, das dadurch entstand, dass die Hamas in immer mehr Gebieten militärisch unter Druck geriet und sich zurückzog – auch ihre Polizeikräfte.
Oft macht die Hamas kurzen Prozess
Mit all diesen Gegnern rechnete die Hamas jetzt ab. Videos zeigen Vermummte, die sich auf den Straßen von Gaza-Stadt Schießereien lieferten. Auch in anderen Orten gab es Zusammenstöße. Die Hamas setzte eine Spezialeinheit ein, angebliche Kollaborateure und Verräter wurden festgenommen.
In offiziellen Stellungnahmen hieß es, solche Personen sowie Kriminelle würden dem Justizsystem überantwortet. Oft machte die Hamas aber auch kurzen Prozess, wo sie ihrer Gegner habhaft wurde. Ein Video, das vergangene Woche verbreitet wurde, zeigt die öffentliche Erschießung von angeblichen Kollaborateuren in Gaza-Stadt. Hamas-Kämpfer zerren darin sechs Männer, gefesselt und die T-Shirts über den Kopf gezogen, auf einen Platz und zwingen sie nebeneinander auf den staubigen Boden. Umgeben von einer aufgeheizten Menge werden die Männer dann von hinten durch Kopfschüsse getötet. Die Menschen johlen.

Vertreter der Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsorganisationen verurteilten die Erschießungen, auch die Palästinensische Autonomiebehörde von Mahmud Abbas sprach von „abscheulichen Verbrechen“. Vermittler versuchten palästinensischen Berichten zufolge in den vergangenen Tagen, auf die Hamas-Führung einzuwirken, die öffentlichen Erschießungen einzustellen. Die Hamas teilte daraufhin mit, es habe sich um vollstreckte Todesstrafen nach einem rechtsstaatlichen Prozess gehandelt. Unterstützung erhielt sie sogar vom amerikanischen Präsidenten. Trump sagte, es störe ihn nicht, dass die Hamas Mitglieder von „schlimmen Banden“ töte.
„Das muss aufhören“, sagt dagegen Omar Shaban, der Direktor der Denkfabrik Palthink for Strategic Studies. „Nichts rechtfertigt es, Menschen zu töten.“ Das Ausmaß der Gewalt habe ihn überrascht, sagt Shaban, der selbst aus Gaza kommt und derzeit in Kairo lebt. Gleichzeitig sei grundsätzlich zu erwarten gewesen, dass so etwas passiert. Immer wieder in der Geschichte habe es nach Kriegen Racheakte und Selbstjustiz gegeben. Und in der Gesellschaft des Gazastreifens seien im Kriegsverlauf schwere Spannungen zutage getreten.
Wenig Geduld und viel Rachsucht
Abgesehen von den vielen Kriegstoten gebe es in Gaza „viel Armut und Frustration“, sagt Shaban. Tausende hätten alles verloren: ihre Häuser, Wohnungen, Grundstücke. Die Ursache sei natürlich der Krieg, aber es hänge nicht immer ausschließlich mit den israelischen Bombardierungen zusammen. So kehrten in diesen Tagen viele Palästinenser an ihre Wohnorte zurück – und stellten dann fest, dass andere Menschen in ihren Wohnungen lebten und sich weigerten, auszuziehen. Aus der umgekehrten Perspektive betrachtet: Viele Flüchtlinge, die ihre Häuser verloren haben, haben ihre Zelte irgendwo aufgeschlagen – und wollen jetzt nicht wieder gehen.
All das habe die Frustration und die Wut noch verstärkt, sagt Shaba: „Wir reden von einem kleinen Gebiet, in dem zwei Millionen Menschen leben, die zwei Jahre lang ununterbrochen im Krieg waren und jetzt auf Armut und wirtschaftliche Schwierigkeiten zusteuern.“ In so einer abnormalen Situation könne man nicht erwarten, dass Menschen sich normal verhielten. Daher gebe es wenig Geduld und viel Rachsucht und Hass.
Der Hass kann sich gegen unterschiedliche Akteure richten: gegen Israel, gegen die internationale Gemeinschaft, gegen die Hamas, gegen die Palästinensische Autonomiebehörde. Aber natürlich auch gegen diejenigen, die versucht haben, vom Krieg zu profitieren. In Gaza gebe es einflussreiche Großfamilien, erklärt Shaban. Manche von ihnen seien seit vielen Jahren in kriminelle Aktivitäten verstrickt: Erpressungen, Überfälle, Entführungen.
Israel unterstützte kriminelle Clans
Während des Krieges profitierten diese Kriminellen vom Schwarzmarkt. Für verschiedenste Güter mussten die Bewohner des Gazastreifens zwischenzeitlich astronomische Summen aufbringen, etwa für Zigaretten, aber auch für grundlegende Lebensmittel. Dass manche sich an ihrem Leid bereicherten, hat viele in Gaza verbittert – auch deswegen gibt es große Spannungen, die sich jetzt entladen.
Die Hamas profitiert von dieser Situation, weil sie sich als diejenige Kraft inszenieren kann, die gegen die kriminellen Machenschaften vorgeht. In ihren offiziellen Stellungnahmen bemüht sie sich darum, als rechtsstaatliche, legitime Regierung aufzutreten. So hieß es in einer der ersten Erklärungen des Innenministeriums nach dem Beginn der Waffenruhe, man fordere „alle Bürger auf, öffentliches und privates Eigentum zu schützen, Handlungen zu vermeiden, die ihr Leben gefährden könnten, und mit der Polizei, Sicherheitsbeamten und Dienstleistern zusammenzuarbeiten, um ihre Sicherheit zu gewährleisten“.
Das Vorgehen der Hamas gegen Clans hat aber auch eine politische Seite. Einige dieser Gruppen wurden während des Krieges offenbar von Israel unterstützt, etwa indem sie von Angriffen verschont blieben oder ihnen Hilfsgüter zugänglich gemacht wurden. Bisweilen war die Unterstützung sogar militärisch und ganz offen. Israels Ministerpräsident Netanjahu verkündete im Juni, dass die Armee Waffen an den Abu-Schabab-Clan ausgegeben habe – eine Großfamilie, die im Süden des Gazastreifens beheimatet ist und als hochkriminell gilt. Israel ging es darum, Gegengewichte zur Hamas im Gazastreifen aufzubauen. Das sei aber niemals realistisch gewesen, sagt Omar Shaban. Selbst während des Krieges seien diese Familien zu schwach gewesen, die Hamas im gesamten Gazastreifen herauszufordern. Sie konnten höchstens kleine Gebiete kontrollieren.
Flucht in israelisch kontrollierte Gebiete
Auch in diesen Gebieten versucht die Hamas sich jetzt wieder zu etablieren. Vor einigen Tagen gab es in Sabra, einem Stadtteil von Gaza-Stadt, Gefechte zwischen Kräften der Hamas und Angehörigen des Dugmush-Clans. Letzteren wurde vorgeworfen, sie hätten während der Offensive der israelischen Armee auf Gaza-Stadt mit dem Abu-Schabab-Clan zusammengearbeitet. Etwa 60 Personen wurden festgenommen. Das Innenministerium gab palästinensischen Berichten zufolge ein Ultimatum aus: Alle, die mit der Abu-Schabab-Familie zusammenarbeiteten, sollten sich sofort ergeben. Hunderte Bewaffnete sollen sich daraufhin in diejenigen Gebiete zurückgezogen haben, die noch von der israelischen Armee kontrolliert werden – rund die Hälfte des Gazastreifens.
Das harte Vorgehen der Hamas dient mehreren Zielen: Die Gegner sollen ausgeschaltet und die Bevölkerung soll eingeschüchtert werden. Denn die Hamas ist zwar eine tief in der palästinensischen Gesellschaft verankerte Kraft, insbesondere im konservativen Gazastreifen. Aber gleichzeitig lehnen offenbar selbst dort viele Menschen eine fortgesetzte Herrschaft der Islamisten ab. Khalil Shikaki, der renommierteste palästinensische Meinungsforscher, der auch während des Krieges Umfragen gemacht hat, sagte der F.A.S. kürzlich, er sehe in den vergangenen zwei Jahren „einen deutlichen Rückgang des Prozentsatzes der Bewohner des Gazastreifens, die wollen, dass die Hamas weiterhin die Kontrolle über Gaza ausübt“. Es gab auch mehrmals Demonstrationen gegen die Hamas im Gazastreifen, wenn auch nur von kleinen Gruppen.
Entwaffnung der Hamas noch nicht ausgemacht
Die Hamas dürfte sich der grundsätzlichen Stimmung bewusst sein. Seit Monaten beteuert sie immer wieder, sie strebe nicht an, weiter die Macht im Gazastreifen auszuüben. Allerdings sei man nur bereit, die Macht an eine von Palästinensern gebildete Regierung abzugeben – nicht an Akteure aus dem Ausland, weil das der Besatzung durch eine Kolonialmacht gleichkäme.
Gleichzeitig versucht die Hamas zu erreichen, dass sie in einer palästinensischen Regierung hinter den Kulissen Mitspracherecht hätte. Die Palästinensische Autonomiebehörde bemüht sich, den Einfluss der Hamas zu minimieren. Aber auch sie muss auf die Stimmung in der Bevölkerung achten – in der die Hamas als Kraft des Widerstands gegen die israelische Besatzung weiterhin grundsätzliche Sympathie genießt, selbst wenn viele sie als Regierungsmacht vorerst für abgewirtschaftet halten.
Schließlich sendet die Hamas mit der blutigen Machtkonsolidierung auch ein Signal nach außen: Mit ihr ist weiter zu rechnen in den jetzt anstehenden Verhandlungen über die weiteren Schritte von Trumps Gazaplan. Der sieht eine Entwaffnung der Hamas vor, was auch Netanjahu vehement fordert – andernfalls werde Israel den Krieg wiederaufnehmen. Die Hamas sagt, über diesen Punkt habe man noch keine Einigung erzielt.
Die entscheidende Frage ist nun, ob die Zeit für oder gegen die Hamas arbeitet. Je länger die in Trumps Plan vorgesehenen Arrangements auf sich warten lassen – die Technokratenregierung und die „internationale Stabilisierungstruppe“ – , desto mehr Zeit hat die Hamas, sich in einem Teil des Gazastreifens wieder zu etablieren. In Israel befürchten manche schon, dass man am Ende wieder bei der Situation ankommen werde, die vor dem 7. Oktober 2023 herrschte: ein von der Hamas kontrolliertes Gebiet im Gazastreifen und regelmäßige militärische Auseinandersetzungen mit Israel. Gewinner gäbe es dann keine, nur viele Menschen, die in der Zwischenzeit das Leben verloren haben.