
Es ist eines der größten Rätsel der Anthropologie: Warum existiert heute nur noch der Homo sapiens – worin war er etwa dem Neandertaler überlegen? US-Forscher sind jetzt überzeugt, dass ein giftiges Schwermetall dabei eine große Rolle spielt.
Dass sich die Bevölkerung des Römischen Reichs unwissentlich mit Blei vergiftete, ist längst kein Geheimnis mehr. Die antiken Wasserleitungen waren technisch innovativ, doch die Bleirohre wurden den Menschen zum Verhängnis. Auch Bleiglasuren auf Trinkgefäßen setzten beim Gebrauch Giftstoffe frei, und sogar Wein wurde mit Bleiacetat gesüßt.
Aber das tückische Schwermetall schadete dem Menschen nicht erst in der Antike oder durch die zunehmende Umweltbelastung während der industriellen Revolution. Offenbar beeinflusste Blei schon viel früher die Entwicklung des Menschen – und die seiner nahen und fernen Verwandten.
Blei beeinflusste die Evolution
Eine internationale Forschungsgruppe unter Leitung der University of California in La Jolla zeigt nun, dass bereits urzeitliche Hominiden dem Einfluss von Blei ausgesetzt waren. Im Fachmagazin „Science Advances“ berichten 29 Forscher verschiedener Disziplinen, dass sowohl Frühmenschen als auch Menschenaffen schon vor rund zwei Millionen Jahren mit Blei in Kontakt kamen.
Das geschah demnach lange, bevor Vertreter der Art Homo sapiens begannen, Erze abzubauen und Blei gezielt zu nutzen. Doch das Metall ist nicht nur akut giftig – es kann sich schleichend im Körper anreichern und auf Dauer Schaden anrichten.
Die Bleibelastung ist also kein modernes Phänomen. Anhand der fossilen Zähne von 51 Hominidenarten aus Afrika, Europa und Asien konnte nachgewiesen werden, dass mehrere Spezies, darunter Australopithecus africanus, Paranthropus robustus, der einst in China heimische Menschenaffe Gigantopithecus blacki oder ausgestorbene Orang-Utan-Ahnen sowie Homo neanderthalensis und Homo sapiens, über einen Zeitraum von zwei Millionen Jahren oder länger regelmäßig Blei ausgesetzt waren.
Die jetzt entdeckte frühe Belastung durch das toxische Metall könnte die Evolution der Hominiden, insbesondere die ihrer Gehirne beeinflusst – und das Sprachvermögen sowie soziale Fähigkeiten mal mehr, mal weniger eingeschränkt haben. Das berichtet das Team – entdeckte aber eine bemerkenswerte Ausnahme: den modernen Menschen. Im Erbgut des Homo sapiens sind an der Studie beteiligte Genetiker und Neurowissenschaftler auf eine mutierte Variante gestoßen, die unsere Spezies offenbar vor gewissen Einflüssen des Bleis schützen kann.
„Wir haben aufgehört, Blei im Alltag zu verwenden, als wir dessen Giftigkeit erkannten – aber niemand hatte je die Vorgeschichte untersucht“, wird Studienleiter Alysson Muotri vom Department of Pediatrics in einer Mitteilung seiner Universität, der University of California zitiert.
Überraschenderweise zeigten die Zähne von Menschen, die zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren geboren wurden, ähnliche Bleimuster wie fossile Zähne aus dem Pleistozän. Offenbar waren schon Individuen der Eiszeit, vor bis zu 2,6 Millionen Jahren, belastet – und das oft schon im Säuglingsalter.
In 73 Prozent der untersuchten Hominiden-Zähne – 71 Prozent der Proben stammten von modernen und archaischen Menschen – wurde Blei nachgewiesen. Besonders bei G. blacki-Fossilien, die rund 1,8 Millionen Jahre alt sind, war eine akute Bleibelastung demnach eher Regel als Ausnahme und kam wiederholt vor.
Das Team vermutet, dass urzeitliche Menschen und andere Hominiden durch ihre Wasserversorgung mit dem Schwermetall in Kontakt kamen. „Eine Möglichkeit ist, dass sie nach Höhlen mit fließendem Wasser suchten“, vermutet Muotri. „Höhlen enthalten oft Blei – so kam es wahrscheinlich zu einer unbemerkten Kontamination.“ Die Forscher nehmen an, dass sich unsere Ur-Ahnen und entfernte Verwandten durch die Nutzung von kontaminiertem Wasser in Höhlen, unbemerkt belastet haben.
Bleivergiftungen schränken allerdings die Blut- und die Gehirnentwicklung ein – und können zu einem geringeren Intelligenzquotienten und emotionalen Problemen führen. Womöglich wird das Gruppenverhalten beeinflusst, denn die Folgen gehen über Zellschäden hinaus – sie prägen sogar Gemeinschaften.
In Regionen mit hoher Bleibelastung zeigen Kinder nicht nur schlechtere Schulleistungen und niedrigere Abschlussquoten, sondern legen laut einem Review aus dem Jahr 2000 auch häufiger auffälliges oder kriminelles Verhalten an den Tag. Insgesamt stützen die in der aktuellen Studie ausgewerteten fossilen, zellulären und molekularen Daten die Annahme, dass eine Blei-Exposition die soziale Entwicklung und das Verhalten im Laufe der Evolution beeinflusst haben könnte.
Angesichts dieser Erkenntnisse fragte sich das Team um Muotri aber, wie sich das Gehirn des modernen Menschen – trotz Bleibelastung – während unserer Evolution so erfolgreich entwickeln konnte. Was verschaffte dem Homo sapiens einen Überlebensvorteil? Antworten auf diese Frage finden sich in den entsprechenden Erbinformationen.
Aussagekräftige DNA-Vergleiche
Seit das Erbgut des Neandertalers komplett sequenziert ist und analysiert werden kann, herrscht unter Anthropologen, Evolutionsbiologen, Palaeogenetikern und auch Hirnforschern regelrecht Goldgräberstimmung. Nun lässt sich nicht nur zweifelsfrei belegen, dass ein Großteil der Weltbevölkerung Erbinformationen des vor rund 40.000 Jahren ausgestorbenen Neandertalers in sich trägt. Unsere Vorfahren müssen also der archaischen Verwandtschaft einst sehr nahe kommen sein – sie hatten Sex.
Außerdem es ist anhand der DNA-Sequenzen möglich, in Vergleichsanalysen einerseits Gemeinsamkeiten, andererseits essenzielle Unterschiede aufzuspüren. Somit, hofft man, lässt sich vielleicht die Evolutionsgeschichte des Menschen nachvollziehen – und Erklärungen dafür finden, was dem Homo sapiens einen entscheidenden Überlebensvorteil bietet.
Von der einst weitverzweigten Verwandtschaft sind nur noch wir übrig – mit Schimpansen und Bonobos als unsere nächsten Verwandten im ausgedünnten Stammbaum. Alle anderen Vertreter der Gattung Homo sind seit Jahrtausenden von der Erdoberfläche verschwunden.
Im Jahr 2008 lag die erste Rohfassung vor, inzwischen konnten zahlreiche Lücken geschlossen worden, und die Genome von mehreren Neandertalern sind vollständig entziffert. Das ermöglicht Detail-Analysen einzelner Abschnitte, die sich in irgendeiner Form als interessant für die Evolutionsbiologie erweisen, dazu zählen 61 Proteine, die charakteristisch für den modernen Menschen sind. Die jeweiligen Effekte lassen sich in der Zellkultur untersuchen oder an sogenannten Organoiden, wenn sich etwa aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) spezifischere Gewebetypen entwickeln.
Für die Gehirnentwicklung und die Bildung von Synapsen, den Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, spielt das Gen Nova1 eine zentrale Rolle. An der Entstehung von Autismus und Schizophrenie soll es beteiligt sein, und es reguliert, wie Nervenzellen auf Blei reagieren. Fast alle Vertreter des Homo sapiens besitzen eine Variante, die sich nur minimal von der bei Neandertalern und Denisova-Menschen entdeckte ursprünglichere Version unterscheidet: durch ein einzelnes DNA-Basenpaar, was einem Buchstaben im genetischen Code entspricht. Frühere Studien hatten gezeigt, dass die archaische Code zu schnell reifenden, aber weniger komplexen Gehirnstrukturen führt.
Um nun den Einfluss von Blei zu testen, erzeugte Muotri mit seinen Kollegen spezielle „Mini-Gehirne“ mit verschiedenen Versionen des Nova1-Gens. Wie sich in diesen Experimenten herausstellte, veränderte die Neandertaler-Variante die Expression von FoxP2. Dabei handelt es sich um ein Gen, das entscheidend für die Entwicklung der menschlichen Sprach- und Sprechfähigkeiten ist. Mutationen des FoxP2-Gens führen beim Menschen zu Sprachstörungen, das Gen beeinflusst unter anderem auch den Gesang von Singvögeln.
„Die für komplexe Sprache zuständigen Neuronen sterben bei der archaischen Version ab“, erklärt Muotri die beobachteten Effekte. Im FoxP2-Gen wiederum würde sich der Neandertaler nicht vom Homo sapiens unterscheiden, die Sequenzen seien identisch. Aber die Regulation durch Nova1 unterscheide sich deutlich.
Die moderne Nova1-Variante könnte den Menschen vor Bleischäden geschützt und komplexe Sprache sowie soziale Zusammenarbeit ermöglicht haben – entscheidende Vorteile gegenüber Neandertalern. Muotri mutmaßt, dass Blei zum Verschwinden der Neandertaler beigetragen haben könnte: „Sprache ist unsere Superkraft. Sie erlaubt uns, Gesellschaften zu organisieren und Ideen zu teilen.“ Dazu waren Neandertaler offenbar nicht im gleichen Maße fähig.
Die Studie zeigt eindrucksvoll, wie eng Umweltfaktoren und genetische Anpassungen in der Evolution des Menschen verflochten waren – und wie diese Aspekte gemeinsam das Gehirn formten. Zugleich liefern die Ergebnisse neue Hinweise auf die Entstehung von Sprachstörungen und Autismus.
Künftige Forschungsprojekte sollen nun klären, wie Veränderungen des FoxP2-Gens die neuronale Entwicklung beeinflussen. Ob Mutationen etwa die Auswirkungen von Umweltschadstoffe verändern. Elektrophysiologische Analysen und Untersuchungen zur Vernetzung von Nervenzellen könnten hilfreiche Hinweise geben – und das Verständnis der molekularen Grundlagen menschlicher Sprache weiter verbessern, hoffen die Forscher.
Zusammenspiel der Sprach-Gene
Die Fähigkeit zur Sprache war ein entscheidender Schritt für den sozialen Zusammenhalt und das Überleben unserer Art. Gene wie FoxP2 standen dabei vermutlich unter starkem „positiven Selektionsdruck“, um Kommunikation und Kooperation zu fördern. Spannender Nebeneffekt: Archaische Genvarianten wie die des Nova1-Gens erlauben neue Einblicke in die gemeinsame Evolution von Sprache und Gehirn. Sie sind ein wichtiges Indiz dafür, wie tief diese Entwicklung in der evolutionsbiologischen Geschichte des Menschen verwurzelt ist.
Während das Manuskript der aktuellen Studie noch begutachtet wurde, lieferten neue Forschungsergebnisse eines Teams der Rockefeller-Universität in New York spannende Hinweise, berichten die Autoren. Werde Mäusen etwa die für den Homo sapiens spezifische Nova1-Variante eingesetzt, verändere sich deren auf Ultraschall basierende Kommunikation. Dieses Ergebnis deute auf eine enge Verbindung zwischen Nova1 und sprachbezogenen Signalwegen hin – darunter FoxP2 und weitere Gene, die in verschiedenen Hirnregionen an Nova1 gekoppelt sind.
Zugleich weisen die Forscher auf Grenzen ihrer eigenen aufschlussreichen, jedoch limitierten Arbeit hin: „Gehirn-Organoide sind ein reduziertes Modellsystem, das die Komplexität und Funktionsweise eines vollständig entwickelten menschlichen Gehirns nicht vollständig abbildet.“ Organoide würden vor allem Prozesse in frühen Entwicklungsstadien widerspiegeln, was ihre Fähigkeit begrenze, feine evolutionäre und funktionelle Dynamiken des menschlichen Gehirns zu erfassen. Ihre Ergebnisse würden daher erste Hinweise auf Wechselwirkungen zwischen Genen und Umwelt liefern, seien aber noch keine endgültigen Beweise für ursächliche Zusammenhänge.
Seit mehr als 25 Jahren verfolgt Sonja Kastilan als Wissenschaftsjournalistin ein breites Themenspektrum aus Medizin und Lebenswissenschaften: von Aids und Demenz über Evolutionsbiologie und Neandertaler hin zu Stammzellen und Zika.