Interview mit Rebecca Miller zu ihrer Doku über Martin Scorsese

Fünf Jahre lang hat die 63-jährige Filmemacherin Rebecca Miller, Tochter des Dramatikers Arthur Miller und der Fotografin Inge Morath, Ehefrau des Schauspielers Daniel Day-Lewis, an ihrem vielschichtigen und analytischem Porträt des Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Martin Scorsese gearbeitet. Mit „Mr Scorsese“ macht man en passant auch einen Schnelldurchgang durch die letzten 65 Jahre Filmgeschichte. Zum Videointerview treffen wir Miller bei sich zu Hause in New York an, ihr Arbeitszimmer ist nicht groß, aber sehr hell, die weiße Wandfarbe und die New Yorker Vormittagssonne lassen es erstrahlen.

Man kann entweder Gangster oder Priester werden, heißt es, nur Scorsese sei beides. Seit wann kennen Sie Martin Scorsese?

Ich habe ihn am Set von „Gangs of New York“ kennengelernt und verdanke ihm, dass ich mit beim Dreh in Italien war, eine wunderbare berufliche Erfahrung für mich.

Wie kommt es, dass Scorsese auch auf Ihre Karriere Einfluss hatte, nicht nur auf den schauspielerischen Weg Ihres Mannes Daniel Day-Lewis?

Ich habe dort mein Skript zu „Personal Velocity“ geschrieben. Das war für mich ein Wendepunkt. Vorher hatte ich nur einen Film gedreht, „Angela“, der zwar Preise gewonnen hatte, aber kein Geld eingespielt hatte. Ich wusste also nicht, ob ich je wieder einen Film drehen würde. Also begann ich zu schreiben, „Personal Velocity“ und andere Geschichten und fand auch einen Verleger dafür . . .

Mit diesen Geschichten wurden Sie international bekannt, in Deutschland erschienen sie unter dem denkwürdigen Titel „Als sie seine Schuhe sah, wusste sie, dass sie ihren Mann verlassen würde“. . .

. . . dann ergab sich die Möglichkeit, die Storys als Low-Budget-Produktion zu verfilmen. Daher schrieb ich „Personal Velocity“ in Italien zum Drehbuch um. Weit weg von den USA zu sein, hat mir das Schreiben erleichtert. Ich fühlte mich sehr frei. Außerdem bat ich Scorsese um Rat, welche Filme so viel Voiceover verwenden wie mein geplanter. Er gab mir gleich eine ganze Liste großartiger Titel, die ich auch alle ansah. Als mein Film dann fertig war, sah Marty ihn an und gab mir Feedback dazu. Der Film gewann erst in Sundance, dann andere Festivals und brachte mich zum Filmemachen zurück. Das hat mein Leben verändert.

Hat Ihnen die Arbeit an Ihrer Dokuserie Überraschungen beschert, obwohl Sie Scorsese kannten?

Viele! Denn ich kannte seine Filme, aber ich wusste wenig über sein Leben und seine persönliche Geschichte. So wurden die Interviews, die ich mit ihm für die Doku führte, zu echten, tiefen Gesprächen. Viele Antworten waren für mich völlig überraschend.

Scorsese hat Ihnen seine persönliche Wahrheit offenbart. Glauben Sie, dass er völlig aufrichtig war?

Ja. Dass er ungewöhnlich ehrlich ist, auch sich selbst gegenüber, wurde mir nach den ersten vier Stunden Interview klar, als wir erst die Hälfte geschafft hatten. Auch er merkte da, dass dies eine gründlichere Auseinandersetzung werden würde als gedacht. Außerdem befanden wir uns mitten in der Pandemie. Diese Zeit hatte etwas an sich, das alle dünnhäutig machte und veränderte. Keiner wusste, was passieren würde. Scorsese saß in seinem Arbeitszimmer fest und wusste nicht, wann er wieder drehen würde. Auch deswegen war er zu diesen Gesprächen bereit.

DSGVO Platzhalter

Zu Anfang des Drehs dreht Scorsese die Rollen um, gibt Ihnen Regie­anweisungen, als sei er Chef am Set. Kokettierte er nur, um zu zeigen, wie ungewohnt es für ihn war, selbst zum Subjekt zu werden?

Er machte sich über sich selbst lustig – als wäre es ein Automatismus, als müsste er naturgegeben Regieanweisungen geben. Ich habe diesen Moment geliebt.

Sie zeigen verblüffende Zusammenhänge zwischen Scorseses Biographie und seiner Filmsprache auf: Seine Affinität für Aufnahmen aus der Vogelperspektive resultierten . . . aus seinem Asthma?

Ja, als Kind litt er unter schwerem Asthma und war oft zu Hause gefangen. Statt draußen mitzuspielen, beobachtete er vom Fenster aus, was unten auf der Elizabeth Street vor sich ging. Dazu sehen wir Aufnahmen aus „Taxi Driver“ oder „Gangs of New York“, in denen das Geschehen aus dem genau gleichen Winkel von schräg oben zu sehen ist.

Bei ihm ist es also keine Metapher zu sagen, dass sein Leben von Filmen abhing.

Sein Vater floh bei Asthmaattacken in heißen Nächten mit ihm oft ins Kino, weil es dort Klimaanlagen gab. Das Kino wurde für ihn buchstäblich eine Sache von Leben und Tod.

In welcher Lebensphase zeigt sich erstmals der Künstler Scorsese?

Schon als Junge. Mit zehn oder elf fertigte er erstaunliche Zeichnungen für die Geschichten an, die er sich aus­dachte. Im Grunde sind es Storyboards. Man erkennt, dass er schon als Kind die Sprache des Films beherrscht, weil er seit seinem fünften Lebensjahr Hun­derte von Filmen sah, als hätte er alle Nährstoffe aus den Filmen gesaugt. Das zeigt seine Genialität. Auch sein Gespür für Musik, Bilder und Rhythmus und Schnitt war enorm. Die Filme hatten ihn erzogen.

Wie stark hat ihn seine Umgebung beeinflusst, Little Italy, die Mafia, die Kleinkriminellen, die Allgegenwart der Gewalt?

Alle Nervenbahnen seiner Filme enden in seiner Nachbarschaft und seiner Familie. Seine Freunde aus Kindertagen erzählen, wie sie eine Leiche in einer Nebenstraße fanden und in das Einschussloch einen Bleistift steckten. Marty hat Gewalt nicht nur im Kino gesehen, er hat sie erlebt.

Die Regisseurin Rebecca Miller
Die Regisseurin Rebecca MillerGetty

Scorseses Zufluchtsort war die Kirche. Er war Messdiener, wollte Priester werden, nur seine Schwäche für Mädchen hielt ihn davon ab. Wie groß war der Einfluss seines Glaubens auf seine Kunst?

Einer der Faktoren, die mich an Marty reizten – abgesehen von seiner Bedeutung in der Filmwelt –, war, wie präsent Glaube und Spiritualität bei ihm waren und wie sie zur Gewalt in seinen Filmwelten passten. Wie konnte dieser Kon­trast in einer Person zusammen­treffen?

Isabella Rossellini, die mit ihm verheiratet war, bestätigte diese Dichotomie von Katholizismus und Gewalt, nennt Scorsese „einen heiligen Sünder“. Sein Welterfolg „Taxi Driver“ soll auch eine Studie seiner eigenen Isolation sein, seiner Einsamkeit und Wut . . .

. . . das sagt er selbst! Und auch sein Kollege Paul Schrader.

Was Scorsese entsetzte, war, dass „Taxi Driver“, für den er als wichtigster Regisseur seiner Zeit gefeiert wurde, John Hinckley 1981 zum Mordversuch an Ronald Reagan „inspiriert“ haben sollte. Wie tief traf ihn die Erkenntnis, dass ein Filmemacher nicht nur Visionen produziert, sondern seine Fiktion zur politischen Realität beitragen kann?

Das war ein harter Schock. Was ihm Trost gab, war, dass Goethes „Leiden des jungen Werther“ kurz nach seinem Erscheinen zu einer Zunahme an Suiziden bei jungen Leute führte, wie eine Art Modeerscheinung. Das ist nur ein Beispiel, dass Kunst die Vorstellungskraft von Menschen so weit in Brand setzen kann, dass sie Verbrechen begehen.

Ähnelte Ihr Gespräch streckenweise einer Therapie?

(lange Pause) Ja, vielleicht. Ja.

Wie befreite sich Scorsese von dem Trauma, von seinem „Werther-Effekt“?

Er drehte die Komödie „King of Comedy“, bei der Robert De Niro einen Talkshow-Moderator entführt. Erst diskutierten Marty und Bob: „Sollen wir das drehen? Oder wird jemand dann einen Talkshow-Host kidnappen?“ Sie kamen überein, dass sie es drehen müssen, weil sie etwas Relevantes erzählen wollten. Die Aufgabe eines Künstlers besteht darin, die Wahrheit widerzuspiegeln, nicht die Reaktion der Bevölkerung zu kon­trol­lieren. Denn das kann man nicht.

Wie wurden Scorsese und De Niro zum kongenialen Duo?

Es ist wie die Liebe eine Wahlverwandtschaft, das Geheimnis der Begegnung zweier Seelen, die sich erkennen. Sie hatten Gemeinsamkeiten, kamen aus demselben Milieu, waren Nachbarn und zwei grandiose Künstler am Anfang ihrer Karriere. Es ist die seltsame Kombination aus Zufall und etwas, das später wie Schicksal erscheint.

Robert De Niro, Daniel Day-Lewis, Leonardo DiCaprio – sehen Sie eine besondere künstlerische Qualität, die Scorseses Favoriten verbindet?

Ich meine, Marty sucht bei seinen Schauspielern nach Wahrhaftigkeit. Er möchte, dass sie vielleicht an Grenzen gehen, möchte darauf vertrauen, dass sie bereit sind, sich mit ihm ins Ungewisse zu stürzen. Marty interessiert es, wie weit man gehen kann, wie tief man in eine Figur eintauchen kann. Vielen Regisseuren geht es um Kontrolle, ihm nicht. Seine Arbeit mit Schauspielern wird von großer Risikobereitschaft dominiert.

Wie begegneten Sie Scorseses de­struk­tiver Phase und seiner Drogensucht?

Es gab Augenblicke, in denen ich voller Respekt und Ehrfurcht war. Denn er sprach, als wären wir allein. Aber das war seine Entscheidung. Ich ahnte nicht, wie es laufen würde. Ich würde meine Herangehensweise am ehesten als radikales Zuhören beschreiben, anstatt ihn zu drängen oder zu manipulieren. Der ­Autor Jay Cox sagt, Marty habe sich schon immer für die dunklen Seiten interessiert, weil dort oft die Wahrheit liege.

Kunst erfordert Grausamkeit, lautet eins von Scorseses Credos. Warum?

Mal muss man eine Szene herausschneiden, mal eine ganze Figur, mal auf einen Aspekt eines Themas verzichten. In „Mean Streets“ porträtiert er die alten Jungs aus seiner Gegend und verlässt durch diesen Film diese Heimat. Martys Leitstern ist immer die Wahrhaftigkeit. Aber er ist auch ein sehr gefühlvoller Mensch mit einem sehr ausgeprägten Gewissen. Die Wahrheitssuche kostet ihn etwas. Er weiß, dass er dafür bezahlen muss.

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