Roman zu Belgrad im Zweiten Weltkrieg: Opfer, Feind, Verräter oder Mörder

Wie sah das Leben in Belgrad an dem Tag im Mai 1942 aus, als Serbien für „judenfrei“ erklärt wurde? Das ist die Ausgangsfrage des österreichisch-serbischen Schriftstellers Marko Dinić in seinem neuen Roman „Buch der Gesichter“.

Er liefert sechs verschiedene Perspektiven: die des 1910 geborenen jüdischen Jungen Isak Ras, dessen Vater nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt; die seiner Mutter Olga, geborene Kon, die spurlos verschwindet; die der bosnischen Anarchisten Rosa und Milan, bei denen Isak unter dem Namen Ivan aufwächst; die seines Halbbruders Petar, der sich den Partisanen anschließt; die eines Manns, der den Familiennamen des Autors Dinić trägt und Kollaborateur der Nazis ist; und schließlich die Malkas, eines Dackels, der mit den aus Wien auf einem Schiff fliehenden Juden nach Serbien kam.

Der Roman ist netzartig aufgebaut und schickt seine Le­se­r*in­nen auf viele verschiedene Fährten. Nach und nach werden die Fäden zusammengeführt, lösen sich verschiedene Rätsel: Wurde Olga von dem Anarchistenpärchen umgebracht, hat sie sich in die Donau gestürzt, oder ist sie geflohen? Hat Petar einen unschuldigen Zivilisten erschlagen, und hat Mirko Dinić Juden gefoltert?

Gewalt, Selbsthass, Folter

Verkrüppelte Körper, sexualisierte, trunkene, psychotische Gewalt, Selbsthass, Folter, ideologisch angetriebene Skrupellosigkeit – Dinić stellt sich mit seinem Roman in die Tradition der großen historischen Romanciers des ehemaligen Jugoslawiens wie Ivo Andrić oder Aleksandar Tišma, die die Kontinuität der Gewalt in dieser Region auch als Folge der osmanischen, österreichischen und deutschen Eroberer beschreiben.

Die Fäden, die Dinić meisterhaft spannt, sind fesselnde Erzählkunst und repräsentieren zugleich das unentwirrbare Garn, das die menschliche Psyche spinnt. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind dabei zentrales Motiv. Immer wieder tauchen Geister, Ungeheuer und Schatten auf, die den Spekulationen und Unterstellungen, aus denen sie entstehen, Nahrung liefern.

Der heimliche Protagonist dieser überwältigend dichten Beschreibung ist vielleicht gar keine Figur. Der eigentliche Herrscher ist der ewig anwesende Verdacht: Geboren aus der Ungewissheit der Machtverhältnisse kann er über Nacht jeden zum Opfer, zum Feind, zum Verräter und Mörder machen. Doris Akrap