Paralympics: Der Weitsprung mit Léon Schäfer, den es plötzlich nicht mehr geben soll – Sport

Léon Schäfer ist sich sicher, dass noch mehr drin gewesen wäre. Bei seinem letzten Versuch im Weitsprung der oberschenkelamputierten Männer bei der paralympischen Leichtathletik-WM bedeuteten 7,45 Meter zwar die Silbermedaille. Allerdings verschenkte er beim Absprung viele Zentimeter. Geht es nach ihm, war Gold möglich. Geht es nach den zuständigen Weltverbänden, sollen seine Ambitionen in Zukunft weniger wert sein.

Schäfer, 28, vom TSV Bayer Leverkusen gehört zu den bekannten Behindertensportlern in Deutschland. Er ist Sprinter und Weitspringer, war Weltmeister, gewann Paralympics-Medaillen in Silber und Bronze, ist ein Testimonial für den Sportartikel-Hersteller Nike. Er war Weltrekordler, bis ihn im vergangenen Jahr der Niederländer Joel de Jong übertraf, der bei den Paralympics in Paris mit 7,68 Metern Gold gewann – eine Weite, die eine beachtliche Entwicklung des Prothesen-Weitsprungs belegte. Doch diese Entwicklung kommt nun zu einem Stopp. Denn im Programm für die Paralympics 2028 in Los Angeles fehlt die Disziplin.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Disziplinen aus dem Programm der Paralympics gestrichen werden. Nur die Erklärung lässt die Athleten verärgert zurück

Bei der WM in Delhi bis Anfang Oktober war Schäfer nicht nur als Athlet, sondern auch als Lobbyist in eigener Sache unterwegs. Er hat gemeinsam mit seinen Konkurrenten beim Weltverband vorgesprochen, um dafür zu kämpfen, dass seine Disziplin weiter die mit Abstand relevanteste Bühne bekommt, die es im Sport für Menschen mit Behinderungen gibt: die Paralympics alle vier Jahre. „Das, was wir uns über Jahre aufgebaut haben, wird kaputt gemacht“, sagt er: „Es ist unerklärlich.“ Was auch daran liegt, dass der zuständige Para-Leichtathletik-Weltverband World Para Athletics (WPA) die Entscheidung nicht zufriedenstellend erklären kann.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass Disziplinen aus dem Programm der Paralympics gestrichen werden oder neue dazukommen. Die Vielfalt im Sport für Menschen mit diversen körperlichen Einschränkungen ist groß, unweigerlich ist es auch die Zahl der verschiedenen Klassen. Den ungeübten Zuschauer kann das schon mal verwirren. Schäfers Weitsprung etwa, T63 bezeichnet, ist nicht zu verwechseln mit jenem von Markus Rehm (T64), dem ein Unterschenkel fehlt und der bei der WM auch mit 37 Jahren wieder weiter sprang als der beste Weitspringer mit zwei Beinen bei der Leichtathletik-WM. Schäfer, der als Kind an Knochenkrebs erkrankte, weshalb ihm sein rechter Unterschenkel samt Knie amputiert wurde, braucht anders als Rehm eine Prothese mit Kniegelenk. Der Bewegungsablauf ist ein anderer, die Sprünge sind kürzer.

Der Weltverband WPA erklärt auf Anfrage, dass es für jede Paralympics ein neues Programm gebe, über welches das Internationale Paralympische Komitee (IPC) entscheide. WPA habe für 2028 einen Antrag für 177 Medaillen-Events gestellt, 13 mehr als 2024 in Paris. Als Teil des Antrags forderte das IPC die Fachverbände auf, ein Prioritäten-Ranking der Events zu erstellen. Maßgeblich dafür seien „Grundprinzipien“, die sich nach Rücksprache mit der „WPA Community“ ergeben hätten, sowie Faktoren wie die Anzahl an Athleten in einer Disziplin bei den Spielen in Paris und in der Weltrangliste in den vergangenen Jahren. Statt der gewünschten 177 bekam WPA danach nur die Zusage für die 164 wichtigsten Events in der Rangliste.

So weit, so üblich. Dass die oberschenkelamputierten Weitspringer demnach zu den letzten 13 des Rankings gehörten, ist allerdings ein besonderer Fall. Denn zwar waren in Paris nur sieben Springer am Start, vergleichsweise wenig. In den Weltranglisten der vergangenen Jahre, das haben die Athleten selbst als Argumentationsgrundlage für ihr Vorsprechen beim Verband dokumentiert, war die Anzahl an in der Weltrangliste geführten Springern im Vergleich mit anderen Disziplinen aber nicht besonders gering. Bei der WM waren 13 Springer aus elf verschiedenen Nationen am Start, weit mehr als in manch anderem Wettbewerb, der im Programm bleibt. Und die Verbesserung des Weltrekords um fast einen Meter im vergangenen Jahrzehnt spricht dafür, wie hoch das Niveau ist. Was wiederum eine Erklärung dafür sein könnte, warum in Paris nur sieben Springer teilnahmen.

Die Medaillengewinner in Delhi, die nun für den Erhalt ihres Wettkampfs kämpfen: der dänische Bronzemedaillengewinner Daniel Wagner, Sieger Joel de Jong aus den Niederlanden und Léon Schäfer (v.l.)
Die Medaillengewinner in Delhi, die nun für den Erhalt ihres Wettkampfs kämpfen: der dänische Bronzemedaillengewinner Daniel Wagner, Sieger Joel de Jong aus den Niederlanden und Léon Schäfer (v.l.) (Foto: Kenta Harada/Getty Images)

„Die Klasse geht ab wie ein Punk. Jedes Jahr wird eine neue Schallmauer durchbrochen“, sagt Heinrich Popow. Kaum jemand kennt sich mit dem Prothesen-Weitsprung so aus wie der frühere deutsche Paralympics-Sieger, der 2016 in Rio Gold gewann. Inzwischen arbeitet er für den Prothesen-Hersteller Ottobock, der viele Athleten versorgt, auch Schäfer. Popow hat eine eindeutige Meinung zur Entscheidung der Verbände, die Klasse zu streichen. „Sie müssen aufhören, Politik zu machen“, sagt er. Und: Es sei ein „Skandal“, dass die Entscheidung nicht ausreichend begründet würde.

WPA macht es tatsächlich nicht transparent, was alle „Grundprinzipien“ und alle relevanten Faktoren für das Event-Ranking nach Prioritäten sind. Auch das Ranking selbst ist weder öffentlich noch kennen es die Athleten. Schäfer erzählt von einem Treffen der T63-Weitspringer mit dem WPA-Chef während der WM in Delhi. Auch da: offenbar keine zufriedenstellenden Antworten. „Uns wird keine vernünftige Begründung gegeben“, sagt Schäfer.

Auffällig ist, dass die acht gestrichenen Events allesamt Männer-Wettbewerbe sind; von den acht neuen sind sechs Frauen-Events. Es ist ein Ziel des IPC und wohl auch eines der WPA-„Grundprinzipien“, ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis zu erreichen. Das ist es, was Popow mit „Politik“ meint. Er hat Verständnis für das Ziel, aber er findet, es müssten zuerst die Grundlagen für mehr Frauen im paralympischen Sport geschaffen werden, bevor in der Spitze eine Gleichzahl an Wettkämpfen möglich ist. Er fragt: „Machen wir Hochleistungssport oder Tri-tra-trullala?“

Die Folgen der Entscheidung sind aus seiner Sicht gravierend. Nachwuchsathleten gehe eine Quelle der Inspiration verloren, Prothesenhersteller würden perspektivisch weniger in Innovation investieren und einige Athleten mit Oberschenkelamputationen die Möglichkeit verlieren, an den Paralympics teilzunehmen.

Für Léon Schäfer ist das nicht der Fall. Er hat im Zweifel noch den 100-Meter-Sprint, der weiterhin zum Programm gehört. Aber er will auch den Weitsprung noch nicht aufgeben. „Die letzte Option, die wir haben, wird sein, vor Gericht zu ziehen“, sagt er.