
So knapp war es noch nie: 4,981 Prozent holte Sahra Wagenknecht mit ihrem Bündnis BSW im Februar bei der Bundestagswahl. Nur etwa 9.500 Stimmen fehlten ihr laut amtlichem Endergebnis zum Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde und zum Einzug ins Parlament. Das war, seit Bestehen der Republik, die engste Marge, um die eine Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.
Richtig eng war es damit auch für Friedrich Merz: Hätte es das BSW ins Parlament geschafft, dann hätte der heutige Kanzler keine Mehrheit für seine schwarz-rote Koalition gehabt. Merz hätte einen dritten Partner zum Regieren gebraucht. Einzige Option: die Grünen. Das wiederum hätte vielen in seiner Unionsfraktion, die der ewigen Kompromisse bereits überdrüssig sind, überhaupt nicht gefallen. Für eine Zweidrittelmehrheit hätte Merz fortan noch dazu nicht nur die Linke, sondern womöglich auch das BSW um Unterstützung bitten müssen.
Die Union und die anderen etablierten Parteien haben daher tief durchgeatmet, als klar war, dass es das BSW nicht in den Bundestag schafft. Die Welt ist auch so schon kompliziert genug. So kann man es sagen, auch ohne auf den Wagenknechtschen Verschwörungssound hereinzufallen.
Einige Unstimmigkeiten hat das BSW in Eigenregie aufgedeckt
Das Problem ist: Es sind genau diese Parteien, also keine hundertprozentig neutralen Akteure, die nun darüber befinden sollen, ob es zu einer Neuauszählung der Bundestagswahl kommt. Wagenknecht hat das bereits im Frühjahr gefordert. Aber: „Die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages“, so steht es in Artikel 41 des Grundgesetzes.
Zuständig ist erst einmal der neunköpfige Wahlprüfungsausschuss des Parlaments. Das Gremium hat sich erst spät konstituiert: Ende Juni, also drei Monate nach dem erstmaligen Zusammentreten des neuen Bundestages, tagte es zum ersten Mal. Entsprechend der Mehrheitsverteilung im Parlament sind darin vertreten: drei Juristen aus der Unionsfraktion, jeweils zwei aus den Fraktionen von AfD und SPD sowie jeweils eine Vertreterin der Grünen und der Linken. Das Gremium soll dem Plenum des Bundestages, also allen Abgeordneten, einen Vorschlag vorlegen, ob eine Neuauszählung der Bundestagswahl geboten ist – oder nicht. Erst nach einer Entscheidung des gesamten Bundestages darf das BSW das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn es sich weiter benachteiligt fühlt.
Sahra Wagenknecht sieht sich und ihre Partei durch dieses komplizierte Prozedere benachteiligt, das hat sie oft betont. Und es stimmt ja auch: je mehr Zeit verstreicht, bis der Wahlprüfungsausschuss zu einer Entscheidung findet, desto länger kommt das BSW nicht zu seinem Ziel: Klarheit darüber zu haben, ob es nicht doch noch für den Einzug ins Parlament reicht. Mit allen Konsequenzen, die das über Wagenknecht und ihre Fans hinaus haben könnte: Merz‘ Regierung könnte von heute auf morgen ohne Mehrheit dastehen.
Zumal die Einwände der Partei gegen das amtliche Endergebnis der Bundestagswahl nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Schon im Frühjahr hatte das BSW in Eigeninitiative nachgeforscht – und Unstimmigkeiten in einigen Wahllokalen aufgedeckt. Zum Beispiel waren Stimmen für das Bündnis Sahra Wagenknecht bei der Auszählung versehentlich der rechtsnationalen Kleinpartei „Bündnis Deutschland“ zugeordnet worden. 4.277 Stimmen wurden der Partei nach den vom BSW initiierten Stichproben von der Bundeswahlleiterin nachträglich gutgeschrieben.
Das BSW argumentiert nun: Wo wir mit unseren bescheidenen Mitteln schon 4.277 Stimmen fanden, was würde erst entdeckt, wenn bundesweit neu ausgezählt würde – und wir insgesamt nur noch 9.500 Stimmen mehr brauchen, um es doch noch in den Bundestag zu schaffen? Auch zwei Politikwissenschaftler stellten sich vor ein paar Wochen in einem Gastbeitrag für die FAZ an Wagenknechts Seite. „Eine bundesweite Neuauszählung ist angesichts des knappen Ausgangs und vieler Ungereimtheiten nicht nur sinnvoll, sondern auch dringend geboten“, schreiben sie.
Davon beflügelt hat Wagenknecht nun eine Stufe höher geschaltet: „Bring das BSW in den Bundestag“, so animierte sie am Wochenende ihre Anhängerinnen und Anhänger auf Telegram, über ein eigens dafür programmiertes Tool eine Mail an die zuständigen neun Abgeordneten zu schicken: „Fordert den Wahlprüfungsausschuss mit uns gemeinsam auf, eine Neuauszählung zu beantragen.“ Das Ziel, laut Wagenknechts Mitteilung: „Druck aufbauen.“
Das scheint gelungen. Allein bis Montag gingen bei den Mitgliedern des Wahlprüfungsausschusses über 9.000 E-Mails ein, wie die parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Ina Latendorf, selbst stellvertretendes Mitglied im Wahlausschuss, sagte. Wagenknecht hat dem Wahlausschuss außerdem ein Ultimatum gestellt: Innerhalb der nächsten vier Wochen, also bis Mitte November, erwarte sie eine Entscheidung, sagte die BSW-Vorsitzende dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Alles andere wäre „grobes Foulspiel“.
Auch die AfD hätte Interesse an einer Neuauszählung
Unterstützung erhält Wagenknecht – wenig überraschend – von der AfD. „Die anderen Fraktionen scheinen auf Zeit zu spielen“, behauptete Parteivize Stephan Brandner kürzlich im Stern. Die Unterstellung: SPD und Union wollten mit ihrer Mehrheit von fünf von neun Abgeordneten im Wahlprüfungsausschuss die Überprüfung von Wagenknechts Anliegen so lange wie möglich, im besten Fall bis ans Ende der Legislaturperiode, herauszögern, um die Koalition in Ruhe regieren zu lassen. Allerdings ist auch die AfD nicht völlig neutral in dieser Angelegenheit: Sie hätte durchaus ein Interesse an einer Neuauszählung der Bundestagswahl. Schließlich würde das womöglich die Ränder des Bundestages weiter stärken und die Regierung in Schwierigkeiten bringen sowie insgesamt Chaos stiften.
„Von bewusster Verzögerung kann keine Rede sein“, widerspricht die Grünenvertreterin im Wahlprüfungsausschuss Linda Heitmann gegenüber der ZEIT. Das Gremium, so sagen es seine Verteidiger, hat auch ohne das BSW viel zu tun. Bisher hat es erst dreimal getagt, ihm liegen insgesamt 1.031 unbearbeitete Wahleinsprüche vor, manche nach Teilnehmerangaben noch aus der Zeit der Europawahl 2024. „Die haben auch ein Recht darauf, dass sie ordentlich behandelt werden“, wie auch die Linke Latendorf sagt. Zudem habe das BSW erst Ende August dem Gremium eine etwa 100 Seiten umfassende rechtliche Stellungnahme eingereicht, diese müsste nun ausführlich geprüft werden.
Gut Ding will Weile haben, also. Aber auch das hört man von Mitgliedern des Gremiums: Die Dringlichkeit des Wagenknechtschen Anliegens und des öffentlichen Interesses sei verstanden, man werde den Wahleinspruch des BSW nun „priorisieren“.
Bleibt die Frage, ob der Fall nicht etwas Grundsätzliches freigelegt hat: Nämlich, dass das ganze Verfahren der Wahlprüfung reformiert werden sollte. Je enger Wahlentscheidungen ausfallen, je mehr politische Bewerber untereinander verfeindet sind, je mehr für bisherige Mehrheitsparteien auf dem Spiel steht, desto weniger scheint das bisherige Prinzip noch zeitgemäß zu sein. Weil das demokratietheoretische Dilemma, dass hier Wahlsieger über die Einsprüche ihrer Konkurrenten entscheiden, nicht von der Hand zu weisen ist – egal wie sorgsam und juristisch neutral die einzelnen Abgeordneten im Ausschuss an die Entscheidungsfindung herangehen mögen. Stimmt schon, das Verfahren sei „seltsam angelegt“, ist von Beteiligten zu hören. Da sollte es doch bessere Möglichkeiten geben?