
Wer verstehen will, was für ein Trainertyp Marco Sturm so ist, sollte das Ende des zweiten Saisonspiels seiner Boston Bruins in der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL betrachten. Fraser Minten hatte gerade in der Verlängerung gegen die Chicago Blackhawks den 4:3-Siegtreffer erzielt, die Zuschauer im TD Garden und die Bruins-Bank flippten aus. Die Reaktion von Sturm: Kopfnicken; Abklatschen mit dem Assistenten links; Abklatschen mit dem Assistenten rechts; Abgang in die Umkleide. Will man Amerikanern Bavarian serenity erklären, die bayerische Bierruhe, muss man ihnen Sturm vorstellen.
„Läuft gut“, sagte Sturm nach den drei Siegen zu Saisonbeginn. Der niederbayerisch-geerdete Dialekt ist unverkennbar; man hört aber auch diesen leichten amerikanischen Akzent raus, den Leute erst bekommen, wenn sie mehr als ein Jahrzehnt in diesem Land leben. „Ich bin mittlerweile seit 28 Jahren hier“, sagt Sturm, der von 1997 an 15 Spielzeiten in der NHL absolvierte, darunter fünf für die Bruins. Sein größter Moment: das 2:1-Siegtor in der Verlängerung gegen die Philadelphia Flyers im Winter Classic 2010 vor 38 000 Zuschauern im Fenway Park. 2015 wurde er Bundestrainer, bei Olympia 2018 gewann das deutsche Team die Silbermedaille. Danach wechselte er als Co-Trainer zu den Los Angeles Kings, von 2022 an leitete er das Nachwuchsteam Ontario Reign – seitdem hieß es quasi in jeder Sommerpause: Wann wird Sturm endlich Cheftrainer?

:„Das hatte nichts mit Coolness zu tun“
Die Silbermedaille bei Olympia ist der größte Erfolg in der Geschichte des deutschen Eishockeys. Bundestrainer Marco Sturm über Schockstarre, „geiles Eishockey“ und was den Unterschied ausgemacht hat.
Das wurde der 47-jährige Dingolfinger in diesem Sommer – bei den Bruins, wo er sich gegen 13 andere Kandidaten behauptete und nun der erst vierte europäische Cheftrainer in der 108-jährigen Geschichte der NHL ist: „Die Leute kennen mich, sie sehen mich nicht mehr so sehr als Europäer“, sagt er: „Ich hatte Glück, als Spieler lange dabei gewesen zu sein, und dass ich als Trainer in Ruhe lernen und mir ein Umfeld aufbauen durfte. Ich weiß, dass es nicht normal ist, als Europäer Cheftrainer in der NHL zu sein. Ich denke nicht wirklich dran – aber wenn ich es höre oder lese, bin ich schon stolz.“ Auch hier: völlige Gelassenheit. Kein Groll gegen die Kings, die ihn zweimal übergangen hatten, das zweite Mal auf arg herablassende Art. Mehr Grazie als Reaktion auf respektlosen Umgang hat in der Sportgeschichte nur Bastian Schweinsteiger 2016 bei Manchester United gezeigt.
Was die Kings-Spieler sieben Jahre über Sturm gesagt haben: toller Typ mit feinem Gespür dafür, was ein Spieler gerade braucht. Wohlgemerkt: keiner, der nur Verständnis zeigt fürs Befinden. Eher einer, der spürt, wann jemand eine Umarmung braucht, wann eine Pause – und wann einen gepflegten Arschtritt. „Ich bin doch schon ein paar Jahre dabei, ich weiß, dass es Auf und Abs gibt“, sagt er. Diese verständliche Begeisterung in Boston nach den drei Siegen – letzte Saison hatten die Bruins die viertschlechteste Bilanz – nimmt Sturm gerne mit. Aber er tut es mit Kopfnicken und Abklatschen der Co-Trainer. Er weiß: Die Bruins sind kein Titelkandidat, selbst die Playoff-Teilnahme wäre eine Überraschung. Sie haben Sturm nicht geholt, damit er in dieser Saison erfolgreich ist – und, ganz ehrlich: Favoriten holen noch immer eher nordamerikanische Cheftrainer. „Es geht nicht um Punkte oder Playoff-Teilnahme“, sagt Sturm: „Wir wollen etwas finden, das in den letzten Jahren ein bisschen verloren gegangen ist.“
Was „Bruins Hockey“ bedeutet? „Sobald wir den verdammten Puck haben: Party Time!“
Das ist die zweite Sache, die sie bei den Kings über ihn sagen: dass er kein Ego habe, sondern sich komplett in den Dienst von Kultur und Spielstil einer Eishockey-Franchise stelle, so wie schon als Spieler. In Boston hat Sturm wegen seiner aktiven Jahre Stallgeruch; er weiß, was Boston Bruins Hockey bedeutet – im Fußball würde man sagen: deutsche Tugenden. Eher berüchtigt als berühmt sein. „Ich will, dass sämtliche Gegner das Spiel gegen uns im Kalender markieren“, sagt Manager Don Sweeney: „Als den Tag, an dem sie lieber nicht spielen wollen.“ Sie lieben das knallharte Eishockey in Boston. Die Bewohner wollen ein eingeschworenes Team, das vermeintlich talentiertere Teams zur Not vom Eis subtrahiert, zu sehen etwa beim dritten Sieg gegen die Buffalo Sabres. Deren Verteidiger Owen Power gehört zu jenen seltenen Sportler-Exemplaren, bei denen der Nachname für etwas steht: Power ist eine Naturgewalt, 100 Kilo auf 1,96 Metern, und wurde von Bruins-Abräumer Nikita Zadorov (zwei Meter, 117 Kilo) über die Bande gehievt, als wäre er eine Mülltüte auf dem Weg in die Tonne.
„Ich will, dass wir eine Einheit werden“, sagt Sturm. Also: dass der furchteinflößende Zadorov, der in Unterzahl Doppelschichten auf dem Eis einlegt, genau dann abräumt, wenn die dritte Angriffsreihe um Torschütze Minten – eine „Wühler-Reihe“ laut Sturm – den Gegner mürbe gemacht hat und Starstürmer David Pastrnak ein bisschen Raum auf dem Eis hat. Dafür braucht es Timing, klare Absprachen. Hinter dem vermeintlichen Knüppelhart-Chaos steckt eine Strategie. „Wir spielen, wie wir spielen wollen!“, brüllte Sturm seinen Spielern in der Ansprache vor dem Trainingslager zu; die Ansprache gucken Bruins-Fans mittlerweile mit Gänsehaut. „Wir spielen, wie wir wollen – damit wir das Spiel diktieren. Sobald wir den verdammten Puck haben: Party Time!“
Marco Sturm weiß, dass es dauern wird, so eine Einheit zu formen. Er weiß aber auch, dass sie ihm in Boston die Zeit geben; Details von Trainerverträgen in der NHL werden nicht veröffentlicht. „Es kann morgen schon wieder komplett anders sein“, sagt Sturm angesichts von 82 Saisonspielen. Als Profi hat er inklusive Playoffs 1006 NHL-Partien absolviert. Drei Siege nacheinander sind keine statistische Anomalie, wie bei diesen Bruins in dieser Saison auch mehrere Niederlagen nacheinander drin sind. Die erste der Saison gab es am Montag: 3:4 gegen Tampa Bay Lightning. Sturms Reaktion bei der Schlusssirene: Kopfnicken; Abklatschen links; Abklatschen rechts; Abgang in die Umkleide.