Nora Gomringers Buch „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“

Gibt es eine glückliche Kindheit? Erwachsen werde ein Mensch, sagt man, nach dem Tod der Eltern. Doch manche Kinder müssen früh erwachsen sein und ausgleichen, was den Eltern nicht gelingt. Kinder sind instinktiv konservativ, ritualgläubig und familiensolidarisch. Wie auch immer, der Tod der Mutter bleibt für die meisten ein lebensveränderndes Ereignis.

Nora Gomringer (geboren 1980), poetischer Wirbelwind zu Luft und Lande (Lyrikerin, Poetry-Slammerin, Performerin zwischen Musik und Malerei und seit fünfzehn Jahren Leiterin des Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg), veröffentlicht vier Jahre nach dem Tod ihrer Mutter Nortrud Gomringer (1941 bis 2020) einen „Nachrough“ mit dem wunderbaren Titel „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“. Es ist ein Satz der Mutter gegenüber einer anderen Mutter, die fragte, ob ein Haustier eine sinnvolle Erwerbung sei. Dieser raue Nachruf porträtiert eine Künstlergattin und Mutter in der Spanne von großartig bis grausam, liebevoll und verantwortungslos, aber er ist auch der Rückblick auf das Drama des ungeliebten Kindes.

Natürlich kann man „immer alles anders erzählen“. Ist die Erinnerung doch eine anarchistische Erfinderin. Aber auch wenn wir dieses Prosadebüt nur als Momentaufnahme lesen, die jederzeit überblendet werden kann, gibt es Einblicke in ein intellektuelles und emotionales Patchwork-Chaos, das um die konkrete Poesie am Küchentisch kreiste. Es ist ein intimes Buch, ein sehr mutiges Buch. Sprachlich getragen von der Souveränität einer staunenden, suchenden, bittenden Kinderstimme. Die springt. Vom oberfränkischen Wurlitz bei Hof (an der Grenze zu Tschechien und Sachsen) nach Bamberg, zu den Sommern in der Normandie, nach New York City und Kalifornien, an die Niagarafälle oder nach Auschwitz, wo die Mutter nach ihrem Vater, einem SS-Arzt, forscht. Manchmal liegen Jahrzehnte zwischen den Abschnitten und Orten.

Nora Gomringer: „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“. Ein Nachrough. Voland & Quist, Berlin 2025. 208 S., geb., 22,– €.
Nora Gomringer: „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“. Ein Nachrough. Voland & Quist, Berlin 2025. 208 S., geb., 22,– €.Voland & Quist

Nach und nach erschließt sich die das Kind prägende Familienkonstellation. Eugen Gomringer (1924 bis 2025), Vater von drei Söhnen aus erster Ehe, war auch heimlicher Vater von zwei Söhnen aus einer nichtehelichen Verbindung. Nora Gomringer war Mitte zwanzig, als sie einmal nach einer Lesung von einer Frau angesprochen und nach Hause eingeladen wurde. Dort bekam sie eine Brotzeit. Und ein Fotoalbum in die Hand gedrückt. „Wieder und wieder blätterte ich hin und her darin. (. . .) Die Bilder zeigten mir meinen Vater und diese kleinen Jungen an den exakt selben Orten, an denen ich über Jahrzehnte fotografiert worden war.“ Ihr Vater sei ein eher „punktuell monogamer“ Familienvater gewesen. Seine Kinder blieben ihm blass. „Wir waren alle Papas ‚Dus‘.“ Und so wurde Nora das Kind einer „oft weinenden Mutter“ und angehalten, als deren Komplizin zu agieren. Als Zwölfjährige musste sie in der Silvesternacht „stundenlang am Telefon sitzen und alle zwanzig Minuten im Londoner Hyatt“ anrufen und den Vater verlangen. Um ihn mit der dortigen Geliebten zu stören, während die Mutter bei Kaviar heulte und sich betrank.

Die Mutter las im Schaumbad liegend vor

Nortrud Gomringer war bereits Mutter eines Sohnes, als sie mit dem sechzehn Jahre älteren Eugen Gomringer einen zweiten Sohn bekam. Nora wurde das letzte Kind des Paares (die Mutter war 39, der Vater 55) und einziges Mädchen in der Reihe von sechs Halbbrüdern und einem Bruder. Ihr Name Nora-Eugenie verbinde Mutter (Nortrud) und Vater (Eugen), der Bindestrich „symbolisiert den Coitus“. Zwei Glutkerne befeuerten das Zusammensein. Die Mutter, geschieden und von der Kirche verstoßen, war in ihrer Art leidenschaftlich katholisch. Auf Reisen Kirchenbesuche, immer, und kein Kirchenbesuch ohne die Kerze für die Mutter Gottes. Rituell las Nortrud ihrem Mädchen im Badezimmer, aus dem Schaumbad heraus, den Hexenhammer und Heiligenlegenden vor und führte es ein in die schönen Blut-, Erlösungs- und Schuld-Lagunen des fröhlichen saarländischen Katholizismus. (Der Vater nannte sich Pantheist.)

Das andere war, dass die Eltern, un­geachtet ihrer Elternschaft und trotz der Jahre der Trennung, ein kompliziertes Liebespaar blieben. Der Vater brachte die Verhältnisse auf den Punkt: „Sie ist nicht deine Mutter, sie ist meine Frau.“ Zwischen den Liebenden und Hassenden ist kein Platz für das Kind. Das ­Mädchen fühlt sich übersehen, wird pummelig, „flächig“. Und erfuhr schon als Elfjährige die körperliche Demütigung, wenn die Mutter entsetzt ausrief, sie habe ja schon Schwangerschafts­streifen, das Binde­gewebe sei gerissen. Sie solle aufpassen, das werde noch schlimmer. „Nie mehr ­habe ich mich vor meiner Mutter ausgezogen.“ Das Kind sehnt sich nach Liebe. Und weiß, dass es oft nur die „kleine Bleikugel“ ist, die die Mutter hemmt. Und doch braucht die Mutter die Tochter. „Ich war der Seismograph für die Beben meiner ­Mutter.“ Oder auch: „Ich wusste früh, dass ich Mamas Lebensversicherung war.“

Absurde familiäre Schreckensszenen

Dies alles klingt schrecklich; verrückterweise ist das Buch immer wieder lustig. Hinreißend der Auftritt der beiden Frauen beim Bestatter, den Nortrud Gomringer beginnt mit dem Satz: „Also, ich sterbe jetzt.“ Nora Gomringer gelingt es, mit Wucht und Willen zum Witz gegen das Dramatische, das Tragische anzuschreiben. All die komischen Kleintier­tode! Ein Hamster fällt während des mütterlichen Schaumheiligendiensts in die Wanne, kann dann aber, helles Entsetzen in den Augen, trockengeföhnt werden. Nora Gomringer, bekennende Christin, arbeitet als Synkretistin, mischt ins Bittere das Bunte, biegt den Schmerz in den schrillen und schrilleren Glanz. Karneval! Das Fleisch nehme Abschied und auferstehe! Wenn sie einmal die Seitenwunde des gekreuzigten Jesu als Briefkastenschlitz für den Kummer bezeichnet, dann könnte man dies als eine Poetik in nuce für dieses erstaunliche Buch nehmen. „Ich fand sie zweimal mit geöffneten Pulsadern und stand zweimal ver­loren im Türeingang, als sie weggefahren wurde, nachdem ich zweimal den Notarzt gerufen hatte. Ich putzte zweimal das Bad, versuchte zweimal meinen Vater zu erreichen.“

Diese absoluten Schreckensszenen fängt sie auf, indem sie weitererzählt, dass sie dann zu wenig Kondition hatte, um die Mutter mit dem Rad zu be­uchen. Sie schaffte „die letzte sehr steile Etappe zur Klinik“ nicht, „kaufte ein Eis, heulte und fuhr heim“. Denn zu Hause warteten die Tiere, darunter ein Beo, dem die Mutter den Namen des Vater beibringen wollte, der aber nur „Nevermore“ krächzte, wie sie im Tagebuch „fantasiert“. Tatsächlich blieb der Vogel „immer stumm“. Nortrud Gomringer, die spät in der Psychiatrie an ihrer Dissertation schrieb, sei eine „lustige, herbe, emotional erpresserische und zugleich großzügige Mutter“ gewesen. Eine kluge Frau, die nicht nur die entscheidende Lektorin ihres Mannes war, sondern auch die stolze Mentorin ihrer Tochter, die einmal bekannte, nur für die Mutter zu schreiben.

Nora Gomringer: „Am Meerschwein übt das Kind den Tod“. Ein Nachrough. Voland & Quist, Berlin 2025. 208 S., geb., 22,– €.