Sieg in WM-Qualifikation: Woltemades Schulter rettet das DFB-Team


„Let’s raise the roof” – das war schon vor dem Anpfiff die Aufforderung ans nordirische Publikum: Lasst das Dach abheben! Der Anlass war in diesem Moment lediglich das 100. Länderspiel des Nationaltrainers Michael O’Neill. Als dann 14 Minuten gespielt waren, Oliver Baumann und Aleksandar Pavlovic im Strafraum lagen und der Ball im deutschen Tor, schien das das Dach dann wirklich abzuheben im Windsor Park von Belfast. Und die Deutschen konnten froh sein, dass das nordirische Führungstor durch einen Wink des Schiedsrichterassistenten wieder aufgehoben wurde: Abseits.

Was wäre gewesen, wenn? Das mussten sich Julian Nagelsmann und sein Team später nicht mehr fragen. Vielmehr wird bei ihnen der Soundtrack dieses Abends noch ein bisschen länger positiv nachhallen, nach einem 1:0-Sieg in der WM-Qualifikation, der nicht nur wertvoll war, sondern auch durch Wert- und Schwerarbeit zustande gekommen – wenngleich am Ende mit vereinten letzten Kräften. Für den Lohn in Form von drei Punkten sorgte Nick Woltemade mit seinem ersten Länderspieltor – per Schulter, nach einem von David Raum getretenen Eckball. Gewinner gab es aber auch sonst einige im deutschen Team, nicht zuletzt den Bundestrainer selbst, der nun für sich in Anspruch nehmen kann, seine Mannschaft mit ruhiger Hand durch schwere See gebracht zu haben – bis auf Weiteres jedenfalls. 

Als Tabellenführer mit neun Punkten geht es im November zunächst nach Luxemburg, ehe das Qualifikations-Finale gegen die nach jetzigem Stand punktgleiche Slowakei am 17. November ansteht, einem Montagabend in Leipzig. Mit dem Sieg von diesem Montagabend in Belfast dürfen die Deutschen hoffen, dass auch über den Tag hinaus etwas entstanden ist, was das Team dringend brauchte: ein Gefühl von innerer Stärke und verlässlichen Strukturen. Gegen die Doppel-Sieger des Oktober-Lehrgangs müssen sich potentielle Herausforderer jedenfalls ganz schön ins Zeug legen.

Ein Signal des Vertrauens

Der Sound der Musik hatte schon weit vor Anpfiff den Windsor Park in Stimmung gebracht, ein Repertoire von Songs mit nordirischen Bezügen, durchaus alternativ angehaucht. „We’re gonna have a night out in Belfast City”, hieß es dann just, bevor die deutsche Aufstellung verkündet wurde. Aber was für ein Abend würde es für die Deutschen werden? Nagelsmann jedenfalls sendete ein Signal des Vertrauens: Er begann mit derselben Elf wie am Freitag beim 4:0 gegen Luxemburg. Die hatte war zwar keinen überwältigenden Eindruck gemacht, aber zumindest war sie das Spiel mit der richtigen Einstellung angegangen. Um zu beweisen, dass das nicht nur Gratismut gegen einen dezimierten Gegner war, von dem ohnehin keine Gefahr droht, konnte es kaum einen besseren Ort geben als diese nordirische Partybox mit ihren knapp 18.000 Zuschauern, in der seit zwei Jahren kein Auswärtsteam gewinnen konnte.

Die Deutschen begannen mit sichtlichem Zutrauen in die eigene Stärke. Es war auch ein fußballerischer Plan erkennbar: Mit Diagonalbällen die Außen Florian Wirtz und Karim Adeyemi ins Tempo und so in die Tiefe zu bringen. Allein, es kam nicht viel heraus, vor allem, weil es ein paar Mal zu oft an Genauigkeit mangelte, einige Bälle segelten ziellos ins Aus anstatt zum Mitspieler. Und dann war da ja noch ein anderes Hindernis. Allein Florian Wirtz hatte in der ersten Viertelstunde schon eine mehrteilige Einführung in die Künste des nordirischen Verteidigens erhalten. Als er das erste Mal auf das Tor schoss, geriet das so hektisch, dass der Versuch eher Rugby-Richtung besaß, das Publikum bejubelte es wie ein Tor. Die aussichtsreichsten deutschen Versuche waren Schüsse von Nico Schlotterbeck und Aleksandar Pavlovic aus einiger Distanz. Hinten herrschte zwar, bis auf das Abseits-Tor, keine Gefahr. Nagelsmann war trotzdem unruhig tigernd zu sehen in einer der kleinsten Coaching-Zonen, die er je betreten haben dürfte. Nach einer knappen halben Stunde legte er erstmal seinen Mantel ab.

Nach 31 Minuten wurde es dann mit einem Mal gespenstisch still. Beinahe wie im Stummfilm liefen die Männer in Weiß jubelnd Richtung Eckfahne. Der deutsche Führungstreffer war eine ebenso simple wie wirkungsvolle Kombination aus Raums Fußgefühl und Woltemades Schultereinsatz, begünstigt durch den Größenvorteil. Der Leipziger, der sich auch defensiv in jeden Zweikampf warf, hat sich in diesem Tagen positiv in Erinnerung gebracht, schon gegen Luxemburg hatte er einen Freistoß verwandelt. Woltemade wiederum könnte zwar weiter etwas besser eingebunden sein, aber so lange das, was ihm gerade in Newcastle gut gelingt, auch dem Nationalteam Zählbares bringt, ist das zu verschmerzen, zumal auch er um jeden Ball kämpfte. Und einer muss ja die Tore machen, echte Gefahr ging sonst von keinem der Kollegen aus. Adeyemi bot sich noch einmal eine aussichtsreiche Gelegenheit, doch sein Schuss wurde geblockt.

Zittern bis zum Schluss

Der alles in allem solide und seriöse Eindruck wurde in den letzten Minuten vor der Pause noch durch zwei nordirische Chancen getrübt, die erste ermöglicht durch eine Nachlässigkeit von Jonathan Tah, der ansonsten aber mit Schlotterbeck ein verlässliches Abwehrduo bildete. Im Zentrum wiederum waren die vertikal sortierten Pavlovic (hinten) und Leon Goretzka (vorn) ein erstaunlich harmonisches Gespann – der Kitt im deutschen Team, der sich auch von den  nordirischen Energiebündeln um Alistair McCann nicht auseinanderreißen ließ.

Nach der Pause hätte es eigentlich schon früh 2:0 heißen müssen, doch Adeyemi, von Wirtz auf die Reise in die Tiefe geschickt, zirkelte den Ball frei vor Torhüter Peacock-Farrell vorbei. Was mindestens genauso ärgerlich war: Dass die Deutschen durch eigene Fehler noch etwas von ihrer Seriosität einbüßten. Erst war es ein Fehlpass von Torwart Baumann, nicht sein einziger, der den Nordiren eine Schusschance und damit auch erheblichen atmosphärischen Auftrieb verschaffte, dann ein Fehler von Schlotterbeck, der beinahe teuer zu stehen gekommen wäre, später noch einer von Raum. Zwischendurch, nach einer guten Stunde, war offensiv Maximilian Beier für Adeyemi gekommen, aber dieses Spiel musste nun hinten gewonnen werden. Als es darauf ankam, half auch Baumann noch einmal kräftig mit, bevor der Abend so endete, wie die Deutschen das gerne hörten: mit eigenem Jubel und einem seltsam kraftlosen „Buh“ von den Tribünen.