
Noch nie war eine Preisverleihung beim Deutschen Buchpreis so rasch vorbei wie an diesem Montagabend. Was machte da eigentlich der Deutschlandfunk mit seiner Livesendung, die so deutlich unter der angesetzten Dauer blieb? Um 18.45 Uhr war die Preisträgerin bereits verkündet, und ihre Dankesrede war gehalten. Und das lag nicht daran, dass sie nichts zu sagen gehabt hätte. Oder an der Eindeutigkeit der Jury-Entscheidung; vielmehr hatte es selten eine Finalrunde mit sechs derart interessanten Kandidaten gegeben.
Ohnehin schon ein Ehrentag
Dass am Ende die Schweizer Schriftstellerin Dorothee Elmiger den Sieg davontrug, war allerdings konsequent, weil ihr Roman „Die Holländerinnen“ souverän wie kein anderer in der Konkurrenz sein literarisches Spiel veranstaltet. Auch sprachlich: Was da im Buch vorgeführt wird, ist ein Fest der indirekten Rede, weswegen sich Elmiger neben ihrem Lektor und ihrem Verleger auch ausdrücklich bei ihrer Korrektorin bedankte, „die in Sachen Konjunktiv mir immer alle Antworten geliefert hatte, die ich brauchte“.
Die bei dieser Zusammenarbeit gesammelte Erfahrung hätte naheliegenderweise auch Folgen für die Dankesrede selbst haben können, denn auch so ein Text steht ja bei der vorherigen Ausformulierung im Zeichen des Konjunktivs: Würde das eigene Buch gewinnen? Noch dazu am Tag des vierzigsten Geburtstags der Autorin, was indes kaum jemand im Saal wissen konnte, denn Elmigers biographische Einträge geben das konkrete Datum gar nicht an.
Jubel für Kaleb Erdmann
Sie verschwieg es auch noch nach der Entscheidung. Dass der Berichterstatter es weiß, verdankt sich einem Gast der Preisverleihung, der am Vorabend bei einer Lesung der Autorin war, an deren Ende noch gemeinsam in den Ehrentag hineingefeiert wurde. Also kein Grund zur Annahme biographischer Begünstigung durch die Jury!
Wenn es nach der Stimmung zu Beginn des Abends im Frankfurter Kaisersaal gegangen wäre, dann hätte man auf Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ als Sieger tippen müssen, denn wie bei der Vorstellung dieses Romans gejauchzt wurde, übertraf die Vorablorbeeren für Kim de L’Horizons „Blutbuch“ vor drei Jahren, und das trug dann ja auch den Sieg davon.
Eine abermalige Enttäuschung
Immerhin sorgte das Strahlen des so gefeierten Schriftstellers dafür, dass die anfangs hilflos die Zuschauerreihen nach den Nominierten durchsuchende Livestream-Kamera endlich auch mal einen der Protagonisten fand. Auch auf den Bildschirmen im Saal konnte man ihre verzweifelten Bemühungen mitverfolgen. Wer immer bei dieser Preisverleihung Bildregie geführt hat, hatte entweder keinen Sitzplan oder konnte nicht lesen. Dilettantismus der besonderen Art, aber warum sollte der Rest perfekt sein, wenn die Konkurrenz es schon war?
Thomas Melle war mit „Haus der Sonne“ und Christine Wunnicke mit „Wachs“ zum jeweils dritten Mal auf der Shortlist gelandet, und beiden hätte man den Sieg auch gegönnt – zumal Wunnicke damit ihrem Verlag, dem im kommenden März schließenden Berenberg, einen fulminanten Abschied verschafft hätte. Dass sie überhaupt gekommen war, darf als kleine Sensation gewertet werden, denn Wunnicke hasst Auftritte. Dass sie nach Abschluss der Zeremonie sofort den Schauplatz verließ, war nicht wie im Vorjahr bei Clemens Meyer Zeichen des Zorns, sondern ihres Unwillens, sich der Öffentlichkeit weiter auszuliefern. Melle, der mit „Haus der Sonne“ als einer der beiden Favoriten galt, ertrug die abermalige Enttäuschung stoisch.
Eine Vereinbarung für den Fall des Sieges
Elmigers Buch war der andere der beiden Favoriten, obwohl auch die beiden letzten Romane auf des Shortlist, Fiona Sironics „Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Dinge in die Luft“ sowie Jehona Kicajs „ë“, alle Ehre für den Buchpreis eingelegt hätten. Aber was „Die Holländerinnen“ auszeichnet, ist der Wagemut einer am Vorbild von Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ orientierten Zivilisationskritik als Roman, der zugleich durch seine potenziert indirekte Erzählhaltung – das Buch erzählt von einer Rednerin, die von dem erzählt, was ihr erzählt worden ist – ein formales Experiment darstellt. Keine leichte Kost. Und deshalb ist der Buchpreis für „Die Holländerinnen“ eine mutige Entscheidung, denn man hat auch schon Buchpreisjahrgänge gesehen, in denen nicht literarische Brillanz, sondern prospektive Verkäuflichkeit den Ausschlag gegeben zu haben schien.
Apropos Verkäuflichkeit: Derzeit kann niemand den Siegertitel kaufen. Er ist seit Wochen vergriffen, und der Hanser-Verlag konnte keine Druckerei finden, die ihn beliefern wollte. Der ursprünglichen Druckerei gab man deshalb den Laufpass, um nun wieder reumütig zurückzukehren, nachdem es auch mit der zweiten nicht funktionierte. Angeblich sollen zum Ende dieser Woche jetzt 100.000 Exemplare ausgeliefert werden – so die Vereinbarung für den nun eingetretenen Fall des Sieges. Hätte Elmiger nicht gewonnen, wären etwaige Interessenten wohl noch weitaus länger ohne Buch geblieben.
Eine Zeile nur aus einem Lied von Tocotronic
Als Dorothee Elmiger dann auf der Bühne stand, lernte man eine leise, bedächtige Autorin kennen, die nicht nur auch der Konkurrenz ihre Reverenz erwies, sondern eben auch der Konjunktivkorrektorin, wobei sie selbst dann konsequent gar keinen Konjunktiv gebrauchte, als sie berichtete, wie sie vorab nach einer treffenden Formulierung für den Fall ihres Triumphs gesucht habe (dieser Konjunktiv stammt denn auch nicht von Elmiger). Auf einem Bildschirm im ÖPNV sei (auch dieser nicht) ein Satz eingeblendet gewesen, angeblich von Marie Luise Kaschnitz: „Der Dichter ist das Sprachrohr der Ratlosigkeit seiner Zeit“. Aber ein Freund habe (wieder nicht) ihr dann gesagt, man müsse (nein, auch das nicht ihr Wort) ja vielleicht auch gar nichts sagen. Oder nur einen Satz wie die Zeile aus einem Lied von Tocotronic: dass das Unglück überall zurückgeschlagen werden muss.
Und das sagte Dorothee Elmiger dann auch zum Schluss ihrer Dankesrede: Dass das Unglück überall zurückgeschlagen werden muss. Mit dieser wunderbaren Preisvergabe ist ein ordentlicher Anfang gemacht. Indikativ Präsens. Weil es unbezweifelbar wahr ist.