
Die Frage nach dem Trinkgeld ist für den japanischen Taxifahrer Daiki Toyoda nicht so einfach zu beantworten. Er kann nicht sagen, dass er nicht gerne eines bekommen würde. Es ist auch nicht so, dass er keines bekommen darf. Andererseits will er sich auch nicht auflehnen gegen die Sitten der japanischen Service-Branche, nach denen man dem Gast nicht zumuten sollte, mehr als den Festpreis zu bezahlen. Toyoda, 36, überlegt kurz, als er seinen Wagen durch Tokios Häuserschluchten steuert. Dann sagt er mit der Sachlichkeit eines Dienstleistungsdiplomaten: „Eine Trinkgeld-Kultur haben wir nicht so richtig. Also freue ich mich, wenn etwas gegeben wird, aber ich finde es nicht unbedingt nötig.“
Trinkgeld nehmen oder nicht? Diese Frage begleitet Japans Dienstleister im Tourismus-Boom. Der Yen ist schwach, der Inselstaat sehenswert. Es ist kein Zufall, dass Japan dieses Jahr auf einen Besucherrekord zusteuert. Laut der nationalen Tourismus-Organisation kamen zwischen Januar und Juni mehr als 21,5 Millionen Urlauber ins Land – so viele wie noch nie.
Nicht alle in Japan finden das gut. Es gibt Klagen wegen Übertourismus, Lärm und Müll. Dazu kommt jetzt der Verdacht, dass spendable Gäste neue Erwartungen ins Land tragen, durch die Essengehen und Taxifahren teurer werden. „In Japan hat die Zahl der Trinkgeldboxen still und leise zugenommen“, berichtete zuletzt die Zeitung Mainichi und fragte: „Breitet sich die Trinkgeld-Kultur aus, weil ausländische Besucher bezahlen wollen?“
Ist es unhöflich, ein angebotenes Trinkgeld anzunehmen?
Vorerst sieht es nicht so aus, als würde das ausländische Trinkgeld den Charakter der Japaner verderben. Ihr Leben war bisher ja nicht komplett trinkgeldlos. In traditionellen Hotels gehört es sich, den Zimmerdamen 1000 Yen (5,63 Euro) pro Gast zu geben, und zwar diskret im Umschlag mit sauberen Banknoten. Der Taxifahrer Toyoda sagt, dass ältere Leute oft auf das Wechselgeld verzichten. Es gebe auch mal Trinkgeld, wenn man zum Beispiel einen schweren Koffer ausgeladen hat. Von Ausländern habe er noch nie eines in bar bekommen. Toyoda erwartet das auch nicht. Er verdiene genug: bis zu 720 000 Yen im Monat, gut 4000 Euro, wenn es gut läuft.
Ein Mitarbeiter der Pizzeria Soffitta in Shibuya verweist auf die Tisch-Gebühr von 300 Yen, die den Service abdecke. Im Tee-Salon des Kunstmuseums in Roppongi sagt eine Bedienung, die keine Zeit hat, es gebe „kaum“ Trinkgeld. Und für die Expertin Eiko Kumagai von der Kansai Gaidai Universität in Osaka passt Trinkgeld nicht zu Omotenashi, dem japanischen Konzept der selbstlosen Gastlichkeit. Dieses beruhe „auf Respekt, Rücksicht und Fürsorge“, sagt Eiko Kumagai in der Zeitung Mainichi. Für Dienstleister werde dabei die Aufgabe, andere glücklich zu machen, zur eigenen Freude. Vielen sei es deshalb „unangenehm, dafür etwas zurückzubekommen“.
Dem Taxifahrer Toyoda ist es nicht unangenehm. Am Ende der Fahrt nimmt er ohne Widerrede ein Trinkgeld an. Mag sein, dass manche seiner Kollegen es unhöflich finden, wenn Ausländer ihnen zum Fahrpreis noch etwas zustecken wollen. Daiki Toyoda scheint es eher unhöflich zu finden, Trinkgeld abzulehnen.