„Vera“ von Susanne Röckel: Babyn Jar und die Deutschen

Deutschland ist ein schönes Land – mit Dörfern wie Juwelen und zerbombten Stadtruinen –, und wird von Schizophrenen bewohnt.“ So beginnt die Fotografin und Journalistin Lee Miller ihre Reportage „Deutschland – Der Krieg ist gewonnen“ aus dem Jahr 1945. Kurz zuvor hatte sie in Buchenwald Leichenberge fotografiert.

Susanne Röckels autofiktionales Buch „Vera – Eine Erinnerung“ setzt später, im Frühling 1968, ein. Da ist der Krieg mehr als zwanzig Jahre her, und die Studenten haben begonnen, gegen ihre Väter zu rebellieren. Doch die Schizo­phrenie der Deutschen, von der Miller schreibt, die scheinbare Normalität angesichts der Monstrosität der Taten, von denen keiner etwas gewusst haben will, gibt es noch immer. Nur dass die wohl­habende Normalität des bundesrepublikanischen Alltags nun nicht einmal mehr durch zerbombte Städte gestört wird.

Ein Opfer im Land der Täter

Eine der beiden zentralen Figuren in Röckels Buch, die Autorin selbst als Vierzehnjährige, wächst in dieser Wohlstandskulisse auf, in Darmstadt, wo zu jener Zeit der sogenannte Callsen-Prozess stattfindet. Hauptangeklagt ist SS-Sturmbannführer Kuno Callsen, neben weiteren Nationalsozialisten, die am Massaker von Babyn Jar beteiligt waren. Aussagen im Prozess wird, und hier kommen wir zur Titelfigur des Buchs, eine der wenigen Überlebenden von Babyn Jar, Dina Proničeva, die Röckel für ihr Buch fiktionalisiert: zu Vera, „die Wahre“.

Susanne Röckel: „Vera“. Eine Erinnerung. Residenz Verlag, Salzburg 2025. 160 S., geb., 22,– €.
Susanne Röckel: „Vera“. Eine Erinnerung. Residenz Verlag, Salzburg 2025. 160 S., geb., 22,– €.Residenz Verlag

Vera also kommt 1968 nach Darmstadt, und Röckel stellt sich ihren Besuch vor: Wie war es für Vera, im sauberen, reichen Land der Täter zu sein? Wem könnte sie damals begegnet sein? Vielleicht sogar der Autorin, die damals auf dem Weg zur Schule war? Durch dieses Gedankenspiel verknüpft Röckel ihre eigene unglückliche ­Jugend mit Veras Geschichte.

Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen und Gemeinschaft?

Ein erzählerisches Experiment, das jedoch nicht ganz gelingt. Zwar haben Täter und deren Nachfahren natürlich etwas mit den Opfern zu tun, sind mit ihnen gewissermaßen verbunden. Und die Frage, ob das Leiden eines jungen Mädchens in den Sechzigerjahren vielleicht vom bedrückenden Schweigen der deutschen Nachkriegszeit kam, von der, wie Röckel schreibt, „Ahnung einer Lüge, die das Wachsen und Lernen und Lieben der Kinder verdirbt“, ist interessant und berechtigt. Hätte es aber, um ihr nachzugehen, diese direkte Verbindung zur Ba­byn-Jahr-Überlebenden gebraucht?

Die vierzehnjährige Röckel unternimmt einen Suizidversuch mit Schlaftabletten ihres Vaters. Die Schriftstellerin Röckel will sich, so schreibt sie, Schock, Schmerz und Angst nähern: „Der eigenen Angst und der Angst der anderen, dem eigenen Schmerz und dem der anderen, dem eigenen Tod und dem Tod der anderen – gäbe es Ähnlichkeiten, Übereinstimmungen, Gemeinschaft?“

Zwei Sprünge

Für diese Annäherung dient ihr Vera, keine reale Person, sondern eine geisterhafte Figur, die jedoch Sätze spricht, die eine historische Person, Dina Proničeva, genauso geäußert hat: Der Text ist durchzogen von Sätzen, die aus den Proto­kollen des Callsen-Prozesses entnommen sind. Aber welche Ähnlichkeiten gibt es tatsächlich zwischen der Überlebenden eines Völkermords und einer deutschen Tochter der Generation der Täter?

An einer Stelle steht die junge ­Röckel im Schwimmbad auf dem Sprungbrett, hat Angst, zittert und traut sich am Ende doch. Dann folgt ein Satz aus den Prozessprotokollen, über Veras beziehungsweise Proničevas Sprung in die Leichengrube von Babyn Jar: „Als nur noch eine Person vor mir war, nahm ich meine ganze Kraft zusammen und sprang in die Grube.“ Danach schreibt Röckel: „Mein Sprung, Veras Sprung, unser Sprung?“

Röckel sichert sich ab – „Was weiß ich schon?“ –, reflektiert ihren gewagten Vergleich – ist er töricht? dreist? – und zieht ihn am Ende doch. Ihre eigene Geschichte, schreibt Röckel, scheine neben Veras Erlebnissen „eine lächerliche Geschichte zu sein“. „Scheint“, das heißt: Sie ist es nicht. Und es stimmt ja: Kein Kummer, keine Verzweiflung ist lächerlich, schon gar kein versuchter Suizid. Doch „Vera“ hinterlässt einen mit Zweifeln angesichts des Versuchs, „etwas wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist“.

Susanne Röckel: „Vera“. Eine Erinnerung. Residenz Verlag, Salzburg 2025. 160 S., geb., 22,– €.