
Zu Beginn des Films „Annie Hall“, der in Deutschland unter dem Titel „Der Stadtneurotiker“ bekannt ist, erklärt Alvy, das Alter Ego von Regisseur und Hauptdarsteller Woody Allen, dem Publikum sein Dilemma. Sein Leben sei „gefüllt mit Einsamkeit, Trauer, Schmerz und Unglück, und all das ist viel zu schnell vorbei …“. Worum es in Wahrheit geht: „Annie und ich haben uns getrennt – und ich kann es immer noch nicht fassen.“ Denn Annie Hall, gespielt von Diane Keaton, passt eigentlich ziemlich gut zu Alvy: Wenn sie kurz darauf mit den Worten „Lass mich in Ruhe, ich hab schlechte Laune, okay?“ linkisch und zu spät aus dem Taxi stolpert, sieht man: Da haben sich zwei Neurotiker:innen gefunden.
„Annie Hall“ war der vierte Film für die damals 31-jährige Schauspielerin, und die Rolle des fahrigen Love Interests brachte ihr im Jahr 1978 einen Oscar ein. Bis zum Ende ihres Lebens identifizierte man sie mit Annie – vielleicht, weil sie auch jenseits der Kamera diese natürlich wirkende Mischung aus Schüchternheit, Authentizität und Humor präsentierte und all das nicht als Schwächen, sondern als Stärken nutzte.
Wann immer sie sich verdächtigte, um Zuneigung zu betteln, ein Verhalten, das bei Frauen geradezu erwartet wurde, nahm sie sich selbst den Wind aus den Segeln: „Wie geht es Ihnen?“, fragt etwa Moderator Johnny Carson sie bei einem Auftritt in seiner Show 1973. „Mir geht’s gut, ich verstecke mich hinter meinem Pony“, antwortet sie, während sie an den Haaren herumfummelt, „ich bin glücklich, dass ich nichts sehen kann, und Gott sei Dank sieht mich auch niemand!“ Der stets sonore Carson weiß daraufhin kurz nicht, was er sagen soll.
Die gebürtige Kalifornierin Keaton lernte ihre Kunst mit der „Meisner-Technik“ – eine Methode, die sich unter dem Motto „Acting is Reacting“ stark auf das Gegenüber stützt. Sie spielte 1969 in Allens erstem Broadway-Theaterstück „Play it again Sam“, das er drei Jahre später für das Kino adaptierte.
Dass sie damals als „verrückt“ („kooky“) und exzentrisch galt, soll ihr 1972 die Rolle von Michael Corleones Frau Kay in „Der Pate“ eingebracht haben. Im Gegensatz zum oberflächlich kontrollierten, aber innerlich brodelnden Mafiosi sind ihre Gefühle, Ticks und Eigenheiten deutlich sichtbar: Ihre Gesichtsausdrücke wechseln schneller als der Wind. Sie spielte – auch nach der Trennung – in vielen Filmen von und mit Woody Allen, ihre Darstellung der Feministin und Schriftstellerin Louise Bryant in Warren Beattys Biopic „Reds“ wurde 1981 für einen Oscar nominiert. Neben dem Schauspiel produzierte und inszenierte sie eigene Filme.
Ihr Sinn für vestimentäre Aussagen war herausragend: Über die roten Teppiche der Welt flanierte sie in todschicken, oft schwarz-weißen Kostümen, mit Handschuhen, Hüten, Krawatten und Einstecktüchern. Niemand ermächtigte sich so gern und so konsequent Herrenanzügen wie sie, egal ob als knallharte Manhattan-Geschäftsfrau in „Baby Boom“ oder in der Romcom „Something’s Gotta Give“. Darin spielte sie eine erfolgreiche Theaterautorin, die eine Beziehung mit dem egoistischen Playboy Harry (Jack Nicholson) eingeht, der vorher stets jüngere, ihm intellektuell unterlegene Partner:innen hatte.
Keaton, die neben Allen auch mit Warren Beatty und Al Pacino liiert war, hatte sich bewusst gegen die Ehe entschieden, aber in ihren 50ern zwei Kinder adoptiert. Am Samstag verstarb sie mit 79 Jahren. Ihr Vermächtnis ist eine souveräne Autonomie in der von strukturellem Sexismus geprägten Branche. Sie selbst hatte es 1997 in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Ich bin die Frau in einer Männerwelt.“