„Das rote Haus“ am Maxim Gorki Theater: Die Geschichte ist noch nicht vergangen

Im Maxim Gorki Theater in Berlin liegen schwarzweiße Postkarten aus. Sechziger Jahre, vier junge Frauen in schick geschnittenen Mänteln schauen sich Schaufenster an. Lebenslust, Sehnsucht nach Eleganz, Swinging Sixties? An die erste Generation der Gastarbeiterinnen in Deutschland denkt man eher nicht.

Ihnen aber ist die Produktion „Das Rote Haus“ auf der Bühne und die gleichnamige Ausstellung im diesjährigen Herbstsalon des Gorki Theaters gewidmet. Es ist die letzte Spielzeit der Intendantin Shermin Langhoff, die mit dem Fokus auf migrantische Stoffe nachhaltig verändert, was im Theater erzählt wird. „Das rote Haus“ als gesamtes Projekt nimmt noch einmal den vermeintlichen Anfang in den Blick, als die dringend benötigten Gastarbeiter Deutschland ökonomisch zum Wohlstand verhalfen. Um gleich zu erzählen, dass dies keineswegs der Anfang war.

Im Theaterstück „Das rote Haus“, inszeniert von Ersan Mondtag, stehen vier ältere Frauen im Mittelpunkt, die zum Arbeiten bei Telefunken nach Berlin gekommen waren. Alt geworden kämpfen Canan, Keriman, Saadet und Yüksel gegen Erinnerungslücken, junge Pflegerinnen, die sie manchmal mit ihren Enkelinnen verwechseln, helfen ihnen bei der Rekonstruktion ihrer Lebensläufe und verkörpern sie bei der Ankunft in Berlin.

Oft waren ihre Eltern oder Großeltern als sephardische Juden oder aus Griechenland und Armenien vertrieben in die Türkei gekommen, zu Türkinnen wurden sie erst in Berlin. Fast immer steht der Wunsch nach Unabhängigkeit hinter der Entscheidung, in Deutschland zu arbeiten. Teils kommen sie aus gebildeten Elternhäusern. Schon in diesen kurzen biografischen Abrissen merkt man (als deutsche Zuschauerin ohne Migrationshintergrund), wie viel dem Klischee der Gastarbeiterinnen widerspricht.

Ein Wartesaal im Bahnhof, ein Schlafsaal im Arbeiterinnenwohnheim, eine Fabrikhalle – diese Stationen deutet der Bühnenraum an, alle etwas düster, einschüchternd, bedrohlich. Neben den Frauen gibt es noch die Figur eines Hausmeisters, von einer der Bewohnerinnen für Otto von Bismarck gehalten. Tatsächlich war der als Kind an diesem Ort in einer Erziehungsanstalt gewesen, die ihn mit schwarzer Pädagogik traumatisiert hat. Frank Büttner, lange ein Star an Castorfs Volksbühne, mimt den vermeintlichen Bismarck, der als Gespenst und Karikatur zwischen den Frauen umhergeistert.

Emanzipationsgeschichten der Frauen

Der Text des Stücks geht zum Teil auf Romane von Emine Sevgi Özdamar zurück, in denen die Schriftstellerin über ihre Zeit in einem Wohnheim in der Stresemannstraße in Kreuzberg erzählte, mit kommunistischem Wohnheimsleiter und Ausflügen in die Theater in Ostberlin. Teils aber auch auf Interviews mit anderen Bewohnerinnen dieses Heims und ihren Töchtern. Die vier erzählten Biografien sind fiktiv, aber nahe an den realen gestrickt. Mehr von den realen Biografien, den Emanzipationsgeschichten der Frauen und ihrem politischen Engagement erfährt man in der Ausstellung.

Die Inszenierung trägt schwer an einem Überschuss an Informationen. Zwar werden die biografischen Skizzen, mit denen die vier Protagonistinnen und ihre Familien vorgestellt werden, von sehr schönen Animationen begleitet: Trotzdem fällt es schwer, ihnen und ihren jüngeren Alter Egos als individuellen Figuren zu folgen. Dabei kommt es darauf gerade an.

Ein Chor tritt auf, der Anatolian Women’s Choir, und flutet die Bühne mit gefühlvollem Sound, der stets das Verlorene betrauert. Das Stück verarbeitet auch, in kurzen Zitaten aus Nachrichten, die wieder wachsende Feindlichkeit gegenüber eingewanderten Deutschen. Und endet mit einer düsteren Fiktion der erzwungenen Remigration: Da wird das Wohnheim zur Sammelstelle vor der Deportation.

Warum das alles so erzählt wird, ist nachvollziehbar in dieser Zeit, in der mit negativen Bildern des Fremden wieder so viel Politik gemacht wird. Auch das Setting zwischen Erinnern und einem Vergessen, das nicht nur auf dem Alter der älteren Einwanderinnen beruht, sondern auch auf den vielen Verdrängungsleistungen, die sie selbst aufbringen mussten, ist einleuchtend.

Dennoch ist der Abend nicht rund, dem recherchebasierten Text fehlt eine eigene Sprache. Deutlich wurde das auch, als am 3. Oktober nach der Vorstellung Emine Sevgi Özdamar zu einer Lesung aus ihrem Roman „Die Brücke vom Goldenen Horn“ auf die Bühne kam. Da erfährt man aus jedem Absatz, aus dem Bau der Sätze, dem oft witzigen Spiel mit Worten so viel mehr über die Perspektive der Angekommenen, ihrem Gefühl der Isolation und des Zusammenhalts unter den Frauen.