Zum Tod von Franz Josef Wagner von Micky Beisenherz: Porsche, Print und Paternoster – Medien

Lieber Franz Josef Wagner,

hat der Himmel ein Wartezimmer? Werden Märtyrer weggeschickt?Wie wohnt der liebe Gott? Hat ihn etwa eine Frau ersetzt, und er sitzt greinend in einem Eckbüro?

Fragen, die Sie, Wagner, sich so oder ähnlich gestellt haben.

Das Briefgeheimnis galt für Sie nicht. Die Nation durfte mitlesen. Trump, das Christkind, Boris Becker – vor Ihnen schrumpften alle zu Adressaten. Sie sahen Briefschlitze, wo andere nur ein Grollen spürten. Raus mit den Gefühlen, rein mit der Post!

An guten Tagen waren Sie tatsächlich der Seismograf für das gesunde Volksempfinden. An anderen Tagen hatten Sie immerhin interessante Gedanken. Immer, sagten Sie, suchten Sie den „perfekten Satz“.

Ihre Adressaten: „Liebe (böse) Hitze“, „Verfluchter Regen“, „Liebe Affen“. Wer ein Abo oder zumindest Hände hatte, schlug morgens zitternd die Zeitung auf: „Liebes Jesus-Baby“, „Liebe/r Pornogucker/innen“, „Liebe Ratten-Retter“.

Sie schrieben dorthin, wo es wehtat, und zwar Ihnen wehtat.

Wie ein Silberrücken hockten Sie in Ihrem 240-Quadratmeter-Gehege in West-Berlin auf dem Fischgrät, und niemand wusste: Würde er toben oder streicheln? Umarmung? Würgegriff? Sie wüteten über Smoothie trinkende Frauen im Gebärstreik. Claus Weselsky bekam mehr Post von Ihnen als von engen Verwandten. Frank-Walter Steinmeier war (auch) für Sie eine schlafende Schildkröte. Bei Annette Schavan holten Sie zum kulinarischen Vernichtungsschlag aus:

„Wahrscheinlich essen Sie gerne Ziegenkäse.“

Warum, Wagner, Ziegenkäse? Warum?? Andererseits: Und wenn er das war, der perfekte Satz?!

Warum schnallen sich heute „Väter ein Brustimplantat um, damit ihre Babys daran nuckeln“? Warum lieben Frauen Eishockey-Männer mehr „als diese parfümierten Arschlöcher“?

Die Wirklichkeit ist die, die wir empfinden. Ihre Post war ein Assoziationsgewitter. Hoch emotional. Subjektiv wie ein Urlaubstag im Spätherbst. Filterlos wie die Gitanes neben der Schreibmaschine, aus der Ihre Texte quollen. Postwürfe, Papierflieger, immer ins Herz. Genie und Wahnsinn hatten in Ihrem geräumigen Kopf gut Platz.

Man verehrte und verfluchte Sie, meist für dieselben Texte. Es gab nicht nur Post von Wagner, sondern auch an Wagner. Petitionen, offene Briefe, Hasstiraden. Kopfschütteln ist auch nur waagerechtes Nicken, oder, Wagner?

Ich mochte Sie. Sie wurden 82, ein Wirtschaftswunderkind, ein Amerika-Liebhaber, Sie haben Marlene Dietrich gekannt und Elvis geliebt. Porsche, Print und Paternoster. Als Chefredakteur brachten Sie Espresso-Tassen das Fliegen bei. Als Kolumnist genossen Sie Ihr Nachleben als lebendes Fossil, in die Bild graviert wie in Bernstein.

Eine Legende der Leidenschaft. Angenehm unzuverlässig, sanft, lieb, einfühlsam, zänkisch, grausam, brutal. Korrumpierbar nur vom eigenen Gefühl. Wo andere die moderne Gesellschaft nur noch aus Schießscharten betrachten und sich im Zweifel winselnd davonmachen, blinzelten Sie alle aus verliebten Augen an.

An einem sonnigen Dienstagmittag sind Sie jetzt einfach gegangen. Sie haben sich durch die Hintertür rausgeschlichen wie durchs Gedränge an einem lebhaften Abend in der Paris Bar, so lebhaft wie damals, als Paul Sahner von München nach Berlin fuhr, nur um Ihnen in der Paris Bar wegen irgendeiner Frauensache eine zu ballern.

„Wie zärtlich können die Hände eines Boxers sein?“

„Was ist wichtiger? Empathie und Mitgefühl oder das kalte unheimliche Wissen von KI?“

„Können Ratten küssen?“

Wer, bitte, stellt jetzt diese Fragen?

Ich hoffe, der liebe Gott hat einen guten Rotwein, lieber Franz Josef Wagner. Und Zigaretten.

Herzlichst

Ihr Micky Beisenherz