Paris Fashion Week: Chanel-Debüt für Matthieu Blazy

Um ein großer Modemacher zu werden, braucht es gute Ideen und einen starken Willen. Matthieu Blazy hat beides. Das zeigt eine Anekdote aus seiner Zeit bei der Modemarke Margiela, bei der er bis 2014 ein paar Jahre lang arbeitete. Eines Tages hatte der junge Designer die Idee, einen Leder­mantel mit den schönen Alufolien vom Champagnerflaschenhals zu laminieren. Aber woher nehmen? Eine seiner ­damaligen Kolleginnen erzählte jetzt der „Libération“, dass Blazy die rettende Idee hatte: Sie seien einfach spätabends in die Küche des Lido-Varietés gegangen, als die Aufführung vorbei war. Da gab es mehr als genug Metallfolien für seine Phantasie.

Man wird noch viele Anekdoten hören über den 41 Jahre alten Designer – auch wenn es in den Chanel-Ateliers, wo er am 1. April mit der Arbeit begonnen hat, geordneter zugeht als in der disruptiven Maison Margiela. Denn Matthieu Blazy ist seit Montagabend der neue Star der Mode. Und wie das bei Stars so ist, so war es bei Yves Saint Laurent, bei Karl Lagerfeld und natürlich bei Coco Chanel selbst – die Anekdoten, Gerüchte, Geschichtchen und ja, auch Lügen legen sich so dicht um den Menschen, dass er schließlich zum Mythos werden muss, zum Modeschöpfer des Himmels und der Erde, ob er will oder nicht. Also aufgepasst: So mancher, der als „petit prince“ begann, war am Ende nur noch ein nervliches Wrack. Aber an Yves Saint Laurent muss man sich ja kein Beispiel nehmen.

Also herrscht am Montagabend im Grand Palais Anspannung. Es ist der letzte Abend der Saison, die so viele Designerdebüts gesehen hat wie nie zuvor, und nun steht der Höhepunkt an. Dior, Balenciaga, Gucci, Versace, Gaultier: gut und schön, aber hier geht’s um Chanel.

Nicole Kidman ist neue Markenbotschafterin

Vor dem Glaspalast Tausende Zaungäste, die schrill schreien, als Jennie aus dem Auto steigt, die südkoreanische Sängerin. Drinnen 2200 Gäste, unter ihnen Naomi Campbell, Jeff Bezos, Lauren Sánchez Bezos, Tilda Swinton, Kendall Jenner, Margot Robbie, Penélope Cruz, Pedro Almodóvar, Charlotte Casiraghi, Sofia Coppola. Und Nicole Kidman, die neue Markenbotschafterin. Böse gesagt: Giorgio Armani ist tot, und Demna ist nicht mehr bei Balen­ciaga, da orientiert sie sich neu. Versöhnlich gesprochen: Sie steht für einen Chanel-Höhepunkt. Ältere erinnern sich: Als sie den legendären Werbefilm von Baz Luhrmann zu Chanel Nr. 5 gemacht hatte, zog Lagerfeld sie im Oktober 2004 auf den Laufsteg – und das Chaos brach unter Fans und Fotografen aus. Seitdem wollte Chanel raus aus dem beengten Carrousel du Louvre. Nicole Kidman ist ­also einer der Gründe dafür, dass die Marke von der Rue Cambon seit 2005 im Grand Palais erfolgreich ihre Grandeur zur Schau stellt.

Champagner ist an diesem Abend nicht vorgesehen, weder vorher noch nachher, da kann man warten, wie man will. Vielleicht haben sie es nicht nötig, die Gäste so billig in Stimmung zu bringen. In der ­ersten Reihe auch Chanel-Legende Inès de la Fressange und Blazys Förderer Raf ­Simons mit weiteren Freunden aus Antwerpen. Über dem Publikum schweben die Planeten des Sonnensystems – die ­ Sonne hat einen Durchmesser von 15 Metern. Will hier ein Größenwahnsinniger seine universelle Strahlkraft beweisen? Nein, das ist nur eine Anspielung auf Coco Chanel, die an Planetenkonstellationen und Glückssymbole glaubte.

Sunday Rose Kidman Urban, Nicole Kidman und Faith Margaret Kidman Urban bei der Chanel-Show in Paris
Sunday Rose Kidman Urban, Nicole Kidman und Faith Margaret Kidman Urban bei der Chanel-Show in ParisReuters

Viele kennen Blazy noch aus seiner Zeit bei Bottega Veneta. Bis Ende 2024 bastelte er dort am Intrecciato-Flechtmuster der Ledertaschen herum und brachte neue Produkte wie Parfums und Schmuck heraus. Auch wegen dieses Geschäftssinns werden ihn Gérard und Alain Wertheimer verpflichtet haben. Den Chanel-Eignern, beide Mitte siebzig, war die Lagerfeld-Nachfolgerin Virginie Viard wohl zu blass, zu schüchtern, zu defensiv. Jetzt haben sie jemanden, der jung ist und trotzdem erfahren, begabt und trotzdem pragmatisch.

Außer den Ideen und dem Willen hat der belgisch-französische Designer auch den richtigen Hintergrund und die beste Ausbildung. Matthieu Blazy wuchs in Paris auf, als Sohn einer Ethnologin und eines Experten für präkolumbianische Kunst, der eine Galerie führte. Er studierte an der Modeschule La Cambre in Brüssel, die einen pragmatischen Ansatz verfolgt: Da geht es nicht um zweidimensionale Phantasiezeichnungen, sondern um dreidimensionales Arbeiten an der Puppe. In der Haute Couture wird es Blazy helfen, er weiß, wie Volants fallen müssen und wie man einen Kragen annäht. Und er weiß, wie es ist, wenn man scheitert. Als er mit Raf Simons bei Calvin Klein arbeitete, war plötzlich für die beiden Schluss – und er stand auf der Straße, buchstäblich, in den Händen einen Pappkarton mit seinen Bürosachen. Das ist erst sechs Jahre her.

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Nun ist er hier. Am Morgen hat er eine Instagram-Story gepostet mit einem weißen Hemd an einer Kleiderstange – eine Anspielung auf Coco Chanel, die Hemd und Hose ihres Lebensgefährten Boy Capel trug. So begann sie, Elemente der Herrenmode in die Damenmode zu überführen, das weiße Hemd zum Beispiel oder die Jacke mit aufgesetzten Taschen. In ihrer Garderobe, so erklärt es Blazy, „gibt das Praktische und Pragmatische nie dem Verführerischen und Auffälligen nach“.

Es könnte sein Motto sein. Denn als die Musik einsetzt und die Models durch die riesige Halle kommen, ist kein einziger vulgärer oder peinlicher oder falscher Look zu sehen. (Anders als bei sämtlichen anderen Debüts der Saison.) Blazy steigt tief in die Chanel-Geschichte ein, appliziert sorgfältig zerknitterte Kamelien­blüten auf Seiden­jacken, lässt die so leichten wie weichen Tweeds schön lang ausfransen, spart generell nicht an offenen Kanten, aber an nackter Haut, lässt die ­Models ihre Hände tief in die Taschen ihrer Röcke vergraben, setzt ihnen lustig wippende Federhüte auf, hängt ihnen Kaskaden von Barockperlen und Glasplaneten um den Hals, holt bei der 2.55-Tasche das burgunderfarbene Lederfutter nach außen, bleibt überraschend traditionsgläubig mit Bicolor-Souliers, den beigefarbenen Schuhen mit schwarzer Kappe und Blockabsatz, ahmt mit schwarzen ­Linien auf Weiß den Rahmen der weißen Parfum-Verpackungen nach, spielt überhaupt mit Schwarz-Weiß-Gegensätzen, indem er zum Beispiel ein schwarzes asymmetrisches Oberteil mit einem weißen Rock ­locker seitlich verknotet, sodass Schwarz und Weiß untrennbar verbunden sind. Und er erschafft die ersten Stufen­volants der Modegeschichte, die nicht alt aus­sehen, weil der High-low-Rock in herrlich knalligem Orange durch die Halle fegt.

Ein Model von Chanel bei der Schau in Paris
Ein Model von Chanel bei der Schau in ParisAFP

Der Höhepunkt ist die Braut, Awar Odhiang, erst das dritte schwarze Model, das eine Chanel-Schau beschließt, nach Alek Wek (2004) und Adut Akech (2018). Entsprechend freut sie sich und dreht noch ein paar Pirouetten mit ihrer bunten Federn­schleppe, die man im Frühjahr auf vielen roten Teppichen sehen wird. Dann herzt sie Matthieu Blazy, der nicht ganz so teuer ­gekleidet ist: Jeans auf halb acht, weißes T-Shirt, schwarzes Strickjäckchen. Der erste Chanel-Designer, der sich den Applaus in Nike-Sneakern abholt!

Die Leute springen auf und jubeln. Was soll man dazu sagen? „Es war clean und modern“, sagt „Vogue“-Redakteur und Modesammler Hamish Bowles. „Es war wunderbar für uns, weil wir aus einem heißen Land kommen und schweren Tweed dort gar nicht tragen können, da kommen uns die leichten Sachen entgegen“, sagen die indischen Schwestern Snehal und Jyoti Babani. „Es war so leicht, mit Matthieu zu arbeiten, wie mit Karl“, sagt Michael Gaubert, der die sphärische Laufstegmusik eingespielt hat. „Er weiß, dass die Chanel-Kundin keine dicken Logos braucht“, sagt Tiktok-Modemann Hanan Besovic („ideservecouture“). „Dieses schwarze Kostüm brauche ich“, sagt Inès de la Fressange und sucht auf ihrem Handy das richtige Foto.

Nur eine hat nichts zu sagen. Suzy Menkes, 82 Jahre alt, vom Alter gebeugt, aber hellwach, hat mehr Chanel-Kollektionen gesehen als jeder andere hier. Wie sie es fand? „Ich sage nichts, bevor ich nicht meinen Artikel geschrieben habe.“ Zwei Stunden später teilt sie ihre ­Erkenntnis auf Instagram: „A star is born at Chanel.“