
Einmal noch die Welt retten. Auch in „Kälter“, Andreas Pflügers neuem Thriller, der diese Woche erscheint, geht es um den „gefährlichsten Terrorist der Welt. Gejagt von allen westlichen Polizei- und Geheimdiensten. Ein Phantom.“ Wir sind in den Achtzigerjahren, im Kalten Krieg, der ein Geschöpf namens Hagen List gebar, dessen Karriere als Logistiker der RAF begann. Unter dem Decknamen Babel steht er zugleich Stasi und KGB zu Diensten. Mit Anschlägen, Massakern und Auftragsmorden soll er mehr als zweihundert Millionen Dollar verdient haben, Tausende Tote rund um den Erdball gehen auf sein Konto. Da er sein Aussehen ständig operativ verändern lässt, ist er eigentlich nur durch einen Blick in die Augen identifizierbar. Den haben nicht viele überlebt.
Amrum, „ein Möwenschiss in der Nordsee“, anno 1989. Luzy Morgenroth lebt seit acht Jahren auf der Insel „und lässt die Zeit einen müden Matrosen sein“. Ihr einziger Kollege Jörgen ist zugleich ihr bester Freund. Die mollige Blondine mit dem Gardemaß ist allseits beliebt und geachtet, weil sie im Bedarfsfall zulangen kann. Einen prügelnden Ehemann hat sie ordentlich zugerichtet. Ein Grabspruch ist ihr zum Lebensmotto geworden: „Der Hoffnung ward ich zwar beraubt. / Und gleichwohl hofft ich doch.“
Es war einmal eine Kampfmaschine
Viel zu tun gibt es in Deutschlands kleinstem Polizeirevier im Winter nicht. Man spricht Friesisch, raucht Camel, im Fernsehen läuft „Magnum“. Die Party zu Luzys Fünfzigsten wird durch eine Vermisstenmeldung unterbrochen: Tamme, der Bruder der Kneipenwirtin, ist von der Fähre verschwunden. Bei Windstärke 10 ein Todesurteil. Selbstmord? Tammes halbwüchsige Tochter ist einem Sexualverbrechen zum Opfer gefallen, er kam nie über diesen Verlust hinweg.
Schon nach fünfzig Seiten kommt es zum ersten Showdown, weil eine russische Söldnertruppe mit der Fähre übersetzt, um eine BND-Agentin auszuschalten, die ihre Geheimnisse in einer internationalen Bieterauktion versilbern will. Der Angriff des Killerkommandos zwingt Luzy, ihre Fähigkeiten als Kampfmaschine zu reaktivieren. In einem anderen Leben war sie verdeckte Ermittlerin, Kommandoführerin im Personenschutz, Nahkampfexpertin, ausgebildet vom israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet, Scharfschützin, die beste Waffe im Stall des Bundeskriminalamts.

Inmitten des Blutbades erkennt Luzy den Anführer der Söldner – Babel. Er lässt Luzy am Leben. Schon zum zweiten Mal. Rückblende: 1981 soll Morgenroth Wirtschaftsminister Kleinröder bei einem Israel-Besuch beschützen, was dramatisch misslingt. Bei einem Anschlag schaltet sie zwar im Alleingang zahlreiche Gegner aus – in einem Hotellift, der am Schabbat auf jeder Etage der neun Etagen hält. Kleinröder überlebt nicht, Luzy schon, weil Babel ihr lieber einen Sinnspruch mitgibt: „Wahre Macht über Leben und Tod hast du nur, wenn du dann und wann jemandem erlaubst, fürs Erste weiterzuatmen.“ Obwohl Luzy nach dem Attentat die SS-Mitgliedschaft Kleinröders der Presse zuspielt, lässt das BKA sie nicht fallen, sondern beauftragt sie, Hagen List auszuschalten. Und so gibt es nach Amrum für Luzy nur noch ein Ziel: Sie will Babel beim Sterben zusehen, sie will „kälter“ sein als er.
Billy Joel hat mit „We Didn’t Start The Fire“ den Kalten Krieg in einem vierminütigen Song kondensiert, Andreas Pflüger pinselt ein fünfhundertseitiges Schlachtengemälde – Zeitgeschichte im Spiegel ihrer Geheimdienstkriege. Dabei sind die Protagonisten selbst in Todesnähe stets schlagfertig, erinnern sich an Filme (bevorzugt solche mit Gene Hackman), an Stephen Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“, an Psalmen. Der Autor jongliert gern mit Fiktion und Wirklichkeit, er erfindet Beatles-Songs und beschreibt Gemälde, die Edvard Munch oder Lucian Freud nie gemalt haben.
In Wien ist die Agentenwelt noch in Ordnung
Als souveräner Routinier Sucht Pflüger unermüdlich nach einer pastosen Bildsprache. Der Wellenschaum türmt sich „als schütte es Waschpulver“, „der Sonnenball kullerte über Federwolken. Aber Deutschland konnte kein Abendrot.“ Oder: „Das Berliner Novemberwetter müsste man als Sondermüll vergraben.“ Gelegentlich neigt er zur Sentenz: „Es gibt eine Müdigkeit, gegen die kein Schlaf hilft.“ Für Schusswechsel und Nahkampf darf es gern zeitlupenhaft drastisch sein. Wenn Luzy einen Gegner ausschaltet, erzählt sie ihm „mit ihrer Walther P5 eine bleierne Gutenachtgeschichte“.
Der Kollaps des Ostblocks wirbelt die Welt der Spione durcheinander, Stasi und KGB ringen um Schadensbegrenzung, manchen schwant schon, die „heile Welt von gestern“, das Freund-Feind-Schema ist Geschichte. Auf dem Spielfeld sind die iranische Revolutionsgarde, Hamas, Hizbullah, CIA, MI6, Mossad, BND. Wer dreht wen wann um, und wer führt am Ende Babel? Und wer hilft Luzy, ihn aufzuspüren? So kommt Timur Belski alias Nikolaus Kieker alias Tigorin ins Spiel, ein hünenhafter KGB-Offizier, Besitzer eines „lebenslangen Abos für Fehlentscheidungen“. In Zweckgemeinschaft mit Luzy, die sich zu einer Liebesgeschichte weitet, fahndet er nach einem Hintermann Babels, einem ägyptischen Terror-Finanzierer, der in Wien lebt und Kunst sammelt.
In Wien ist, anders als in Berlin, die Agentenwelt noch in Ordnung. Die Schnitzel haben eine „fluffige Panade“, und man braucht „kein Büro, um Geschäfte zu machen. Man trifft sich im Griechenbeisl, dem Café Prückel oder dem Sacher und verschiebt zwischen Frittatensuppe und Backhendl Millionen. Und bei einem Mohr im Hemd schanzt man sich irgendwelche Regierungsposten zu.“ Im Prater kommt es zum vorletzten Teil des Endspiels. Schöne Grüße von Harry Lime.
Für „Kälter“ gilt abermals, was unser Rezensent über Andreas Pflügers letzten Roman „Wie Sterben geht“ schrieb: „Mehr kann man nicht erwarten von einem Thriller.“ Da hat einer sein Erfolgsrezept gefunden und fortgesetzt.
Andreas Pflüger: „Kälter“. Thriller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 495 S., geb., 25,– €.