Drohnen über Polen: Katyn, Shakespeare und Putins Drohnen

M orgens, am 10. September, als die Nachricht kam, dass russische Drohnen in den polnischen Luftraum eingedrungen seien, musste ich an ein anderes Datum denken – den 17. September 1939. An diesem Tag marschierten sowjetische Truppen in Polen ein. Von Stalin und Hitler zerrissen, schien das Land von der Karte Europas ausgelöscht zu sein. „Das imperialistische, reaktionäre Polen hat sein historisches Ende gefunden“, schrieb triumphierend der Autor des Artikels über Polen im Band der „Großen Sowjetischen Enzyklopädie“ von 1940.

Darauf folgten gemeinsame Paraden sowjetischer und deutscher Truppen. In den von den Deutschen besetzten Gebieten begannen Erschießungen von Juden, während in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten der NKWD Massenrepressionen durchführte – über 420.000 polnische Bürger wurden verhaftet, nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Die sowjetische Wochenschau zeigte endlose Kolonnen polnischer Kriegsgefangener. Doch für Stalin waren sie weder ­Kriegsgefangene noch Bürger eines anderen Staates – für ihn existierte dieser Staat nicht mehr.

Im April 1940 wurden 20.000 polnische Offiziere erschossen – „als unverbesserliche Feinde der Sowjetmacht“. Auf die Frage des polnischen Generals Władysław Anders, der im August 1941 aus dem Lubjanka-Gefängnis entlassen wurde und im Auftrag der polnischen Exilregierung eine Armee aufstellen sollte: „Wo sind Tausende von polnischen Offizieren?“, antwortete Josef Stalin zynisch: „Sie sind nach Mandschurien geflohen.“

Sie wurden an drei Orten ermordet – bei Smolensk, bei Charkiw und bei Twer. Einer dieser Orte – Katyn bei Smolensk – wurde 1943 von den Deutschen entdeckt. Seitdem wurde das Wort „Katyn“ zum Symbol – für das stalinistische Verbrechen, für die sowjetische Propagandalüge, die dieses Verbrechen den Deutschen zuschrieb.

Katyn blieb ein Stein des Anstoßes

Das Gedenken an Katyn lebte – trotz aller Verbote – in der polnischen Gesellschaft weiter. Diese Erinnerung nährte den polnischen Widerstand. Und einer der ersten wichtigen internationalen politischen Schritte der Perestroika war die Anerkennung der geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Pakts – und später auch die Anerkennung der Verantwortung der sowjetischen Führung für Katyn.

Der polnischen Regierung wurden Dokumente übergeben, die die sowjetische Schuld bewiesen. An den Erschießungsorten wurden von der polnischen Regierung Denkmäler errichtet. Es schien, als sei endlich ein historischer Schlussstrich gezogen.

Doch mit dem Beginn des putinschen Geschichtsrevisionismus blieb Katyn, trotz offizieller Anerkennung, ein Stein des Anstoßes. Seit den 2000er Jahren zeigte sich immer deutlicher die Doppelzüngigkeit: Einerseits wurde das sowjetische Verbrechen nicht geleugnet, andererseits wurden die Formulierungen so gewählt, dass es relativiert und verharmlost wurde. In der Folge wurden Bände zur Ermittlung von Katyn unter Verschluss gehalten und die Opfer nicht rehabilitiert.

Irina Scherbakowa

Irina Scherbakowa ist Vorsitzende der Organisation „Zukunft Memorial“

Dies zeigte sich zunehmend offen in den letzten Jahren an den Erinnerungsorten: Gedenktafeln wurden entfernt, polnische Fahnen. Denn Katyn ist ein direkter Beweis für das, was die putinsche Propaganda heute leugnet: dass der Zweite Weltkrieg für die Sowjetunion nicht 1941, sondern 1939 begann – als Stalin gemeinsam mit Hitler Polen teilte.

Während der Perestroika, als das Katyn-Verbrechen anerkannt wurde, schien es, als habe sich dieser Birnam-Wald (Shakespeare, „Macbeth“) des Gedächtnisses endlich in Bewegung gesetzt und Lehren aus der Geschichte gezogen.

Doch das war eine Illusion. Die russischen Drohnen über Polen und die ukrainischen Kriegsgefangenen, die in russischer Gefangenschaft gefoltert und dem Hunger ausgesetzt werden, zeugen davon.