Ein Interview mit der japanischen Autorin Mieko Kawakami

Die Romane der 1976 geborenen Mieko Kawakami wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Beim Kufsteiner Festival „Sprachsalz“ stellte sie den neuen vor: „Das gelbe Haus“, auf Deutsch erschienen bei DuMont.
Ihr Roman „Brüste und Eier“ war ein enormer Erfolg, nicht nur in Japan. Wie erleben Sie das europäische Publikum?

Am Anfang kam es mir so vor, als hätten viele Leute meine Romane gelesen als Geschichten aus einem sehr fernen Land, die eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun haben. Aber mit der Zeit hat sich das anscheinend gewandelt, und viele Leute – egal ob jung, alt, Frauen oder Männer – lesen die Geschichten wie ihre eigenen. Man kann sich mit den Protagonisten identifizieren, zum Beispiel im Roman „Heaven“, wo es um einen Jungen geht, der gemobbt wird. Diese Veränderung der Rezeption habe ich also festgestellt.

In „Brüste und Eier“ vermengen Sie feministische Themen mit Kapitalismuskritik. Das scheint mir auch ein bedeutsames Sujet in Ihrem neuen Roman, „Das gelbe Haus“, zu sein. Ist denn Armut, insbesondere die von Frauen, nach wie vor ein Tabuthema in Japan?

Es ist es tatsächlich so, dass Frauen in Japan nach wie vor eine schlechtere gesellschaftliche Position innehaben. Aber Armut betrifft nicht nur Frauen, sondern alle, unabhängig von Geschlecht und Alter.

Ist es für Schriftsteller immer noch etwas Besonderes, dieses prekäre Milieu so realistisch darzustellen, wie Sie es tun?

Die japanischen Autoren schreiben über alles Mögliche. Schließlich existieren auch viele literarische Zeitschriften, die gefüllt werden wollen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass es wenige Autoren gibt, die tatsächlich so realistisch wie ich schreiben. Es gibt natürlich Dark Fantasy oder Dystopien – jeder wählt da seine eigene Form. Vielleicht ist es so, dass die meisten japanischen Schriftsteller aus finanziell soliden Familien kommen. Und wenn sie realitätsnahe Fiktion verfassen, setzen sie sich weniger mit dem Thema Armut auseinander, sondern eher mit Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder in Beziehungen oder mit dem Leben als solchem.

In „Das gelbe Haus“ gehen Sie noch einen Schritt weiter und schildern, wie die halbwüchsige Hana in kleinkriminelle Strukturen rund um die Barbesitzerin Kimiko gerät. Gibt es einen realen Hintergrund für Ihren Roman?

1995 gab es ein großes Erdbeben in Kobe. Gleichzeitig verübte die Aum-Sekte Giftgasanschläge in der Tokioter U-Bahn. Für meine Generation war das der Anfangspunkt einer sehr dunklen Zeit, der sogenannten verlorenen dreißig Jahre. Alles Mögliche hat sich in dieser Zeit ver­ändert. Von außen betrachtet, sieht Japan immer so aus, als wäre es ein sehr sicheres und reiches Land, aber die Armut nahm von diesem Zeitpunkt an zu. Damals ist das gesellschaftliche Sicherheitsnetz weggefallen. Das hat sich sogar bei der japanischen Mafia, der Yakuza, bemerkbar gemacht. Die haben ja dieses „Ie“-System, das eines Clans oder einer Familie, das ist ein zentraler Begriff in ­Japan. Auch für die Kriminellen begann eine Zeit großer Veränderungen.

Wie machte sich das bemerkbar?

Sie haben sich aufgesplittert, mussten sich digitalisieren, und es war für sie der Anfang des Abstiegs. All die Leute aus dem Milieu der Verbrecher und Kleinkriminellen, die ich im Roman beschrieben habe, sind letztendlich Übriggebliebene. Aber jetzt, dreißig Jahre später, ist Kreditkartenbetrug, wie ich ihn in „Das gelbe Haus“ schildere, interessanterweise wieder ein Problem.

Und es bildet sich eine weibliche Vierergemeinschaft, was an die Frauen-Genealogie in „Brüste und Eier“ erinnert. Außerdem reflektieren Sie über Frauen und das Alter. Als Hana nach Jahren der inzwischen sechzigjährigen Kimiko wiederbegegnet, die vor Gericht steht, gestaltet sich das sehr emotional und schwierig.

Wenn Frauen zusammenkommen, dann entsteht als wunderbarer Aspekt immer diese Sisterhood. Aber umgekehrt passiert etwas ganz anderes: Es bilden sich patriarchale Strukturen heraus, und genau das wollte ich beschreiben. Die Figuren haben eigentlich nichts Übles im Sinn. Es ist nicht so, dass sie ein böses Herz hätten – ganz im Gegenteil. Sie versuchen das Beste aus ihrem Leben zu machen, und das entwickelt sich eben in diese Richtung.

In Ihrem Lektorinnen-Roman „All die Liebenden der Nacht“ schimmert das weiße Poloshirt von Herrn Mitsutsuka „wie eine große Postkarte, ein winterlicher Gruß“. Auch in „Das gelbe Haus“ ist die Lichtmetaphorik sehr präsent. Verweisen solche Metaphern auf die japanische Tradition der Tuschezeichnung mit ihren Schwarz-Weiß-Kontrasten?

In der Schule gibt es Kalligraphie-Unterricht, bei dem man einen Tuschestein reibt und mit der Tusche die Zeichen schreibt, und dann gibt es auch noch den Kunstunterricht. Aber Farbmetaphern sind in der japanischen Literatur nicht so populär, das ist eher meine Eigenart.

Gilt das auch für Ihre ausgeprägte Lichtmetaphorik?

Auf jeden Fall. Licht und Worte, das ist ganz meins. Man weiß ja gar nicht, was das überhaupt ist, Licht. Und genau wie beim Licht verhält es sich mit unserer Existenz: Man weiß nicht, woher wird kommen und wohin die Reise geht. Das Licht, die menschliche Existenz und das Wort – das sind für mich die drei zentralen Begriffe, über die ich immer schreiben wollte.

Sie haben die zahlreichen Literaturzeitschriften in Japan erwähnt. Wie ist denn dort die gegenwärtige Lage der Literaturkritik?

Im Prinzip wie in Deutschland: Der Platz für Rezensionen von Büchern nimmt insgesamt ab. Es gibt eine Verlagskrise. Es wird weniger gelesen, und das ist ein großes Problem. Aber die Qualitätszeitungen haben immer noch eine Rubrik für Rezensionen, jede Woche werden fünf bis zehn Bücher besprochen. Ich hoffe, das bleibt noch. Früher war es tatsächlich so, dass nach einer Rezension in einer Zeitung die Leute sofort losgestürzt sind und das Buch gekauft haben. Wenn man heutzutage seine Bücher verkaufen will, muss man schon fast auf den Zufall vertrauen.