
Eine richtige Familie zu haben, dachte Birdie, das würde einen von innen wärmen, „als hätte man am ersten Frühlingstag eine Kugel Sonnenschein verschluckt“. Nun fühlt sie sich eher, als hätte sie „eine riesige Bleikugel im Magen“. Das Mädchen steht allein am zugigen Bahnhof von Barrington Dale, einem Dorf in Yorkshire. Und Großtante Mabel, die Birdie abholen sollte, ist nirgends zu sehen. So schleppt Birdie ihren Koffer schließlich allein durch den bitterkalten Wind die Straße hinauf, die ihr so endlos erscheint wie dieser ganze unsägliche Tag.
Birdie Bagshaw war als Baby von ihrer Mutter in einer Kirche ausgesetzt worden, zu Erntedank lag sie damals direkt neben der Roten Bete, mit einem Bittbrief am Latz, man möge sich um sie kümmern. So war das Kind in einem Waisenhaus in Leeds aufgewachsen, bis sich nach etlichen Jahren plötzlich Verwandte meldeten: Die Winterbottoms, Großtante Mabel und Großonkel Walter, wollten das Kind ihrer Nichte zu sich nehmen, schrieben sie, und Birdie, die sich immer eine „richtige“ Familie gewünscht hatte, wurde in den Zug gesetzt.
Doch der Start in ihr neues Leben in der Provinz ist anders, als Birdie es erwartet hat. Denn als sie schließlich den Weg zum Haus der Großtante findet und diese ihr die Tür öffnet, erkennt Birdie die Frau, die vorher sehr wohl am Bahnhof gestanden hat, aber einfach an ihr vorbeigelaufen ist. Hatte die Großtante da nur eine „sauertöpfische Miene“, klappt ihr nun, als sie erfährt, dass das Mädchen vor ihrer Tür ihre Großnichte ist, zuerst der Mund auf, danach wird sie „aschfahl“ und wirkt, als bekomme sie schlecht Luft. Nach einiger Stammelei erklärt sie dem verwirrten Kind: „Sagen wir, ich hab nich mit jemand so … Fremdem gerechnet.“
Diese Geschichte spielt im Jahr 1952, der Zweite Weltkrieg ist noch keine zehn Jahre vorbei. Dass eine alleinstehende Frau ein Kind bekommt, ist nicht gesellschaftsfähig. Ein Skandal aber ist es, ein „brown baby“ zur Welt zu bringen. So nannte man die Kinder von weißen Britinnen, die während des Krieges Beziehungen mit schwarzen US-Soldaten gehabt hatten und schwanger geworden waren. Knapp 2.000 solcher Kinder wurden damals geboren, schreibt die Autorin J. P. Rose im Nachwort. Und genau so ein Kind hat sie zur Heldin dieser Geschichte gemacht.
Birdie ist mit ihrer dunklen Haut und dem „zauseligen“ Haar eine Schande für die Familie, findet Großtante Mabel, die, das Getratsche im Dorf vorausahnend, jedes Verwandtschaftsverhältnis zu vertuschen sucht und Birdie anweist, sie nur mit „Mrs Winterbottom“ anzusprechen. Ganz offen erlebt Birdie Ablehnung und Vorurteile auch in der Schule: Die Kinder machen sich über ihr Aussehen lustig, nennen sie eine Vogelscheuche und jagen sie durchs Dorf. Eltern verbieten ihren Kindern den Umgang mit ihr. Und die Lehrerin glaubt, dass eine wie Birdie, die in Leeds zu den Klassenbesten gehörte, nicht in der Lage sein kann, ihrem Unterricht zu folgen: Während der Rest der Klasse Rechenaufgaben lösen muss, lässt sie Birdie ein Puzzle legen.
Für das Mädchen ist dieser Rassismus nicht nur verletzend, sondern auch überraschend. Im Heim unterschied sie sich nicht von den anderen Mädchen und Jungen, sie war eins von vielen „Mischlingskindern“. Wenn diese als Gruppe mal einen Ausflug unternommen hatten und von Passanten seltsam angeblickt worden waren, war Birdie nie auf den Gedanken gekommen, es könne mit ihrem Aussehen zusammenhängen. „Fremd“, denkt sie nun in Barrington Dale. „Was sollte das bedeuten? Sie war doch einfach nur ein ganz normales Mädchen.“
Gerade weil Birdie zuvor nicht erlebt hat und auch jetzt nicht recht glauben kann, dass sie nur wegen ihrer dunklen Haut für dumm gehalten wird und sich alle von ihr distanzieren, wird deutlich, wie irrational und willkürlich Rassismus ist. Die Autorin, selbst eine Person of Color, schreibt im Nachwort, auch sie habe als Kind einige Zeit im Waisenhaus gelebt. In den Siebzigerjahren zwar, also zwei Jahrzehnte später, als diese Geschichte spielt, doch auch in ihrer Akte habe noch gestanden, Kinder wie sie seien „schwer vermittelbar“. Und obwohl sie schließlich von einer liebevollen Pflegefamilie aufgenommen worden sei, habe sie es in der Schule ähnlich schwer gehabt wie Birdie.
Rose hat weitere autobiografische Erfahrungen in diesen Roman einfließen lassen: Wie Birdie lebte die Autorin in einer nordenglischen Stadt, die vom Kohlebergbau geprägt war – und erleben musste, wie es mit der Industrie zu Ende ging. Ihre Figuren sprechen in einfachen, oft verknappten Worten, mit „hamse“, „willste“, „biste“ vom Übersetzerinnenduo Sandra Knuffinke und Jessika Komina gekonnt ins Deutsche übertragen. Überhaupt spürt man dem Roman an, dass jemand die Verzweiflung und Tristesse eines Dorfs wie Barrington Dale gut kennt.
Viele Familien dort haben Angehörige im Krieg verloren; auch Birdies Verwandte, die Winterbottoms, trauern um ihren gefallenen Sohn. Und die Männer fehlen nicht nur in den Familien, sondern auch unter Tage. Manchmal sieht man zwar noch den ein oder anderen mit rußschwarzem Gesicht auf der Straße, doch längst ist beschlossen, dass das Bergwerk stillgelegt wird. Damit werde dem Dorf das Herz ausgerissen, erklärt Birdies Großonkel, der früher Chef der Zeche war. Er ist einer der wenigen, die dem Mädchen von Beginn an nicht herzlos begegnen.
Die Zeche wird auch für Birdie ein bedeutsamer Ort. Als eine Schar Jungs „die Vogelscheuche“ jagt, versteckt Birdie sich in einer großen Eisenwanne, die kurz darauf in einen Schacht hinabgelassen wird. Tief unter der Erde trifft sie auf jemanden, der genauso einsam und verlassen zu sein scheint, wie Birdie sich fühlt: ein Grubenpony. Von ihrem Großonkel erfährt sie, dass dieses Tier Jahre im Schacht verbracht und geschuftet hat. Das Tageslicht wird Mr Duke, wie Birdie das Pony nennt, jetzt, wo die Schließung des Bergwerks bevorsteht, nie mehr sehen. Der Abdecker ist bereits bestellt.
An dieser Stelle sei eine kurze Bemerkung zum Cover der deutschen Ausgabe erlaubt, nämlich: Augen zu und schnell das Buch aufschlagen! Man darf sich von der lieblichen Pferdemädchen-Optik nicht abschrecken oder in die Irre führen lassen. Es ist zwar richtig, dass Mr Duke für Birdie ein wichtiger Begleiter wird, wie schon der Untertitel „Eine Freundschaftsgeschichte“ ankündigt. Mitnichten aber ist dieser Roman mit all seinen historischen Bezügen und der Auseinandersetzung mit alltäglichem Rassismus, die Rose mit großer Beiläufigkeit einwebt und später im Nachwort vertieft, seichte Ponyhof-Lektüre.
Ein gutes Ende, so viel sei verraten, wird es geben – für Mr Duke, für Birdie, für ihre Familie, ja eigentlich für das gesamte Dorf. Das Mädchen wird Freunde finden, ihrem Großonkel das Funkeln zurück in die Augen zaubern und sogar ihre strenge Großtante Mabel zum Lächeln bringen. Aber bis diese zu ihr sagen kann: „Du bist wie ein frischer Wind“, und: „darum danke, Birdie … danke“, braucht es einiges an Überwindung, Einsicht und Mut. Ein Glück für ganz Barrington Dale und das Grubenpony Mr Duke, dass Birdie davon mehr als genug hat.
J. P. Rose: „Birdie. Eine Freundschaftsgeschichte“.
Deutsch von Jessika Komina und Sandra Knuffinke; Insel Verlag 2025; 400
S., 16,– €; ab 9 Jahren